Pilvi Kuitus Arme fliegen, wenn sie über all die Bälle spricht, die sie gleichzeitig in der Luft hält: Es sind Anträge zu stellen, um die Finanzierung ihres Kulturzentrums PiiPoo zu sichern, eine Präsentation für eine wissenschaftliche Tagung will vorbereitet werden, eine neue Projektmanagerin muss eingestellt werden. Während ich mit ihr das Interview führe, ist sie eigentlich gerade im Urlaub. Kennengelernt habe ich Pilvi Kuitu im spanischen Lleida auf der Tagung des Europäischen und Nordamerikanischen Netzwerks für Ageing Studies: Dort hat sie ihr Forschungsprojekt über Sozialen Zirkus im Pflegeheim vorgestellt.
Sozialer Zirkus
Im Mittelpunkt des Konzepts Sozialer Zirkus steht nicht die artistische Perfektion, sondern das Miteinander, Mitmachen, Lernen und Ausprobieren von Neuem mit viel Humor, Spaß und Freude. Soziale Zirkusprojekte sind Kooperationsprojekte: Sie werden von Sozialarbeiter*innen, Kunst- und Kulturschaffenden gemeinsam mit Artist*innen angeboten. Es gibt inzwischen Soziale Zirkusprojekte für Menschen jeden Alters. Mit dem Caravan Network und dem Cirque du Monde-Netzwerk wurden internationale Netzwerke gegründet, in denen Erfahrungen und Wissen ausgetauscht werden.
Recht auf Zirkus
Das Kulturzentrum PiiPoo, das Pilvi Kuitu leitet, hat aufbauend auf den Erfahrungen eines inklusiven Zirkusprojekts für Kinder mit Behinderung und deren Angehörige vor nunmehr 20 Jahren das Konzept des Zirkus im Pflegeheim entwickelt. Unterstützt wurde das Team von PiiPoo dabei von einer bekannten Zirkusschule aus seiner Region. Das Projekt soll Zirkusaktivitäten zugänglich zu machen: „Denkt nicht, dass wir wie ein Zirkus werden müssen; der Zirkus muss vielmehr werden wie wir“, brachte eine Projektteilnehmerin das Vorhaben auf den Punkt. Die Kulturgeragogin Kuitu erklärt, warum sich die artistische Arbeit besonders gut für Angebote Kultureller Bildung im Pflegebereich eignet. Beim Thema Zirkus bekommen alle – ob Pflegende oder Gepflegte – leuchtende Augen. „Alle Menschen, unabhängig von Herkunft, Alter und Fähigkeiten, haben ein Recht darauf, Zirkus zu machen“, davon ist Pilvi Kuitu überzeugt.
Wunderschönes Scheitern
„Im Zirkus spielt das Scheitern eine besondere Rolle. Da gibt es den Clown, der ständig scheitert, aber auch für die großen Akrobatiknummern ist das stets drohende Scheitern elementar. Das macht es für das Publikum so spannend. Es fiebert mit“, erklärt sie mir. Im Zirkus mit Älteren ist diese Kunst des Scheiterns höchst willkommen. Es geht eben nicht um artistische Perfektion, sondern um eine humorvolle und aufmerksame Interaktion, in der auf die „feinen Zwischentöne“ geachtet wird, wie Kuitu es ausdrückt. Dann wird aus vermeintlichem Scheitern auf einmal etwas Wunderschönes und Poetisches. Für Pilvi Kuitu sind die wichtigsten Zutaten für die gemeinsame Arbeit, sich darauf einzulassen, nicht von vornherein zu wissen, was passieren wird und sich selbst dabei zu beobachten: „Welche Gedanken und Gefühle habe ich währenddessen und wie interagiere ich mit anderen?“ Im Zirkus mit Älteren wird das Unvorhersehbare und Ungewisse begrüßt. Scheitern ist willkommen.
Tandems in der Manege
Bewohner*innen und Pflegende lernen im Zirkusprojekt von PiiPoo jeweils im Tandem ihre Tricks. Am Ende des Projekts gibt es eine Vorstellung. Dann heißt es: Manege frei im Pflegeheim. Bis zu 100 Zuschauer*innen sitzen im Publikum und verfolgen gebannt die einzelnen Zirkustricks – wie zum Beispiel die tolle Clownsnummer, die eines der Tandems ausgearbeitet hat. Pflegende und Gepflegte werden in den Tandems zu „artistischen Kompliz*innen“. Es kann ein Rollentausch stattfinden, in dem sich die Beteiligten auf eine andere Weise kennenlernen. Pilvi Kuitu strahlt, wenn sie von der Entspannungsübung erzählt, die sie am Ende der Proben oft praktizieren. Die Übung besteht darin, dass sich die Tandempartner*innen gegenseitig eine „Dusche“ geben. Pantomimisch drehen sie den Wasserhahn auf und seifen sich gut die Hände ein. Dann tupfen und tippen sie sich gegenseitig sacht mit den Fingern über Kopf, Rücken und Arme. Am Ende legen sie sich gegenseitig ein imaginäres Handtuch um. Wenn die Pflegenden diese Art von sorgender Zuwendung von den Bewohner*innen erfahren, sei das für sie oft eine ganz besondere Erfahrung, berichtet Kuitu. Gleichzeitig erleben die Bewohner*innen, dass auch sie sich um die Pflegenden kümmern können: „Menschen brauchen es, anderen Menschen etwas Gutes tun zu können“, sagt Kuitu.
Forschung über Zirkus und Wohlbefinden im Alter
Das Aufweichen verfestigter Hierarchien zwischen Pflegenden und Gepflegten ist nur eine der Wirkungen, die Pilvi Kuitu in ihrer Forschung zum Sozialen Zirkus im Pflegeheim feststellen konnte. Bei den Proben breitet sich eine andere Stimmung im Heim aus: „Der Mittwoch, an dem der Zirkusworkshop stattfindet, fühlt sich nie nach einem Arbeitstag an“, beschreibt es eine Pflegerin in den Interviews, die Kuitu im Rahmen ihres Forschungsprojekts geführt hat. Die Wirkungen des Zirkus im Pflegeheim sind vielfältig. Das kann Pilvi Kuitu in ihrer Studie zeigen: Die Zirkusarbeit fördert die Teilhabe und Selbstbestimmung älterer Menschen im Pflegeheim, hebt das Wohlbefinden und stärkt ihre Motivation, sich körperlich und geistig zu betätigen. Eine Teilnehmerin sagt „Im Zirkus vergesse ich immer, dass ich krank bin.“
Politische Relevanz
Kulturelle Teilhabe ist für Kuitu ein elementares Recht, das für den Zusammenhalt in der Gesellschaft zentral ist. Sie ist überzeugt, dass die soziale Polarisierung, unter der auch Finnland leidet, nicht so verhärtet wäre, wenn mehr Menschen das Gefühl hätten, dass sie dazugehören. Dafür setzt sich Kuitu in ihrem kommunalpolitischen Engagement ein. Auch in Finnland hat der Kulturbereich in letzter Zeit unter harten Einschnitten zu leiden, berichtet sie. Immerhin gibt es in Finnland das Programm „Kultur auf Rezept“, durch das Menschen per ärztlicher Verordnung an Kulturangeboten teilnehmen können. Das Kulturzentrum PiiPoo bietet im Rahmen dieses Programms für ältere Menschen wöchentliche „Mall Walks“ durch die städtische Einkaufsgalerie an, unter deren Dach das PiiPoo beheimatet ist. An die Spaziergänge schließen sich dann Kulturangebote an, die sich an den jeweiligen Interessen der Teilnehmenden orientieren. Ein niedrigschwelliges Projekt, an dem inzwischen bis zu 70 Personen teilnehmen. Pilvi Kuitu erzählt von ihrer dringenden Suche nach zusätzlichen Fördergeldern, damit endlich zwei Gruppen eingerichtet werden können. Dann stutzt sie: In den nächsten drei Jahren wird sie ja gar nicht für PiiPoo arbeiten. In dieser Zeit übernimmt eine Vertreterin die Leitung des Zentrums, damit sie sich einmal ganz auf ihre Forschung konzentrieren kann. Sie lacht: „Wie es sich wohl für mich anfühlen wird, mit nur einem Ball zu jonglieren?“