Vor dem Eingang des Seniorenheims sitzt ein Herr im Rollstuhl. Er schaut kaum auf, als ich ihn begrüße. Während ich noch am Empfang danach frage, wo im Haus wohl gerade die Tänzerinnen zu finden sind, öffnet sich die Fahrstuhltür: Julia Leredde und Lauriane Madelaine gleiten heraus. Mit ihren gelben T-Shirts und blauen Hosen bringen sie Farbe in den Flur. Beide bewegen sich fließend, formen mit ihren Händen, ihrem Körper kreisende Bewegungen, aufsteigend zu Spiralen. Sie wechseln die Ebenen, gehen in die Knie, auf den Boden und ziehen sich in weitem Bogen kreisend wieder empor. Der Herr im Rollstuhl merkt auf und hebt seinen Arm vors Gesicht, direkt vor die Augen. Möchte er die Tänzerinnen vielleicht gar nicht sehen? Ist ihm das alles zu viel, zu ungewohnt? Vorsichtig greift Julia Leredde seine Bewegung auf, integriert sie in ihren Tanz, indem sie langsam nun ihren Arm vor ihr Gesicht führt und wieder nach unten sinken lässt. Der Bewohner wiederholt jetzt seinerseits ihre Bewegung. Dabei blinzelt er die Tänzerin mit seinen Augen über den erhobenen Arm hinweg an. Er lächelt – beinahe ein wenig verschmitzt. Ein Duett entsteht. Musik kommt hinzu. Ein Tanz.
Ruhrfestspiele Unterwegs
Neben mir beobachtet Olaf Kröck, der Intendant der Ruhrfestspiele, gebannt diese Szene. Er habe an diesem Morgen schon mit etlichen Bewohner*innen gesprochen, erzählt er später. Viele von ihnen seien früher regelmäßig zu Aufführungen der Ruhrfestspiele ins Festspielhaus gekommen. Es beeindruckt ihn, wie stark sich die Festivalgeschichte in deren biografisches Gedächtnis eingeschrieben hat. Nun kommen die Ruhrfestspiele zu ihnen. So soll es sein, findet Kröck. Es gehöre schließlich zur DNA der Ruhrfestspiele, in einem regen Austausch mit dem Publikum zu stehen und die Menschen der Region Teil von Produktionen werden zu lassen.
Teilhabe an Tanz
Mit dem Projekt “Ballade“ hat sich Sauf le dimanche darauf spezialisiert, den zeitgenössischen Tanz zu Menschen im Pflegeheim zu bringen. Jeweils zwei Tänzerinnen bieten den Bewohner*innen eines Heims zwei Tage lang diverse Möglichkeiten, an Tanz teilzuhaben: als privilegierte Zuschauer*innen einer Performance in der Privatsphäre des eigenen Zimmers oder im Rahmen eines Bewegungsworkshops, der so gestaltet ist, dass sich jede*r unabhängig vom eigenen Mobilitätsgrad bewegen kann. Auch ganz nebenbei in den Fluren der Einrichtung oder im Aufzug ist Tanzimprovisation zu sehen. Am Ende ihres Besuchs zeigen die zwei Tänzerinnen eine längere choreografierte Aufführung. Ziel des Projekts ist es, eine „sanfte Brise“ durch die Häuser wehen zu lassen, die die Schönheit und Schwerelosigkeit des Tanzes in sich trägt. Körpern bei der Bewegung zuzusehen, sei schon fast wie selbst zu tanzen – das ist die Überzeugung, die hinter dem Ansatz von Sauf le dimanche steht. Sich auf die Beobachtung von Tanz einzulassen, bietet bereits einen Gewinn an Beweglichkeit.
Intensive Begegnung
Ich frage Julia Leredde und Lauriane Madelaine, was sie als Tänzerinnen daran interessiert, in einem Altersheim zu tanzen. Sie betonen die besondere Emotionalität, die während ihrer Improvisationen im Heim entsteht und die sie immer wieder aufs Neue in ihren Bann zieht. Es sind die Unmittelbarkeit und Intensität des Kontakts, die sie interessieren: »Wenn man auf einer Bühne tanzt, begegnet man dem Publikum nicht so direkt«, erläutert Julia Leredde. „Das ist so schön, diese intensiven Begegnungen mit den Bewohner*innen zu haben, aber auch mit dem Personal“, ergänzt Lauriane Madelaine. Manchmal treffen sie dabei auf Menschen, die keine Lust haben, sich auf den zeitgenössischen Tanz einzulassen, aber die meisten Bewohner*innen und Pflegekräfte würden sie mit Vergnügen willkommen heißen. „Sie sind oft sehr gerührt, unsere tanzenden Körper zu sehen“, erzählt Julia Leredde. Ich frage, ob ihnen die Sprache als Kommunikationsmöglichkeit hier in einem deutschen Altersheim sehr fehle. Sie seien froh, dass ihnen die Ruhrfestspiele eine Übersetzerin an die Seite gestellt haben, die das gesamte Projekt begleitet. Jedoch würden sie auch in Frankreich versuchen, nicht zu viel zu sprechen. Der Tanz soll als Sprache und Medium der Kommunikation ganz im Zentrum stehen. Ziel ist es, über den Tanz eine Beziehung zu den Menschen im Heim aufzubauen. Erst später werde gesprochen und diskutiert – wenn Bewohner*innen und Personal es möchten.
Die Kunst zu bewegen
In ihrem Tanz greifen sie immer wieder Bewegungen des Unterstützens und des Hebens auf. Im Gespräch erläutern sie, dass das zum Konzept gehöre, weil es solche Hebebewegungen seien, die Bewohner*innen und Pfleger*innen täglich gemeinsam machen. Sie sind den Zuschauenden vertraut, aber durch den Tanz erscheinen sie gleichzeitig verfremdet. Das beeindruckt nicht zuletzt die Pfleger*innen. Auch sie sehen ihre alltäglichen Bewegungen auf einmal in einem anderen Licht. Für die Tänzerinnen wiederum sind die Pflegebewegungen interessantes Bewegungsmaterial. „Kann ich mich auf dich stützen? Hältst du mich? Kannst du mich hochheben?“, sind Fragen des gegenseitigen Vertrauens, die ihnen als Tänzerinnen sehr geläufig sind. Hier, so erklären sie mir, können sie solche alltäglichen Bewegungen des Unterstützens ganz basal studieren und tänzerisch mit ihnen experimentieren. Bewusst wählen sie im Gegenzug aber auch Bewegungen, die für ihr Publikum ungewohnt geworden sind. Im hohen Alter seien bei vielen Menschen insbesondere die spiralförmigen Bewegungsformen eingeschränkt. Die Spirale ist deshalb ein wiederkehrendes Element ihrer Improvisationen. Sie wollen den älteren Menschen Impulse geben, diese Bewegung wieder nachzuvollziehen – sei es körperlich oder imaginär.
Impulse
Karin Rockstein ist im Karl-Pawlowski-Altenzentrum für die gymnastischen Bewegungsangebote zuständig. Sie begleitet die Tänzerinnen und ist während der zwei Tage deren ständige Ansprechpartnerin. Beeindruckt beschreibt sie, wie eine hundertjährige, stark bewegungseingeschränkte Bewohnerin im Kontakt mit den Tänzerinnen ihre Arme in gegenläufigen Wellenbewegungen vor dem Oberkörper bis nach oben über den Kopf geführt habe. Sie kann es immer noch kaum glauben, dass sie zu dieser Bewegung fähig war, denn sonst lehne diese Bewohnerin gymnastische Bewegungsangebote meist ab. In Form eines Tanzes aber scheint es für sie anders zu sein. Karin Rockstein will demnächst ausprobieren, in ihre Arbeit öfter kurze tänzerische Interaktionen mit Bewohner*innen einfließen zu lassen. Überhaupt habe sie viel gelernt, während dieser Tage: „Ich habe einen ganz anderen Blick auf Bewegung bekommen.“
Emotionale Qualität
Der Wert von Tanz für Gesundheit und Wohlbefinden im Alter ist evident und inzwischen wissenschaftlich erforscht. Zentral für die Qualität tanzgeragogischer Angebote im Kontext von Pflegesettings ist die Fähigkeit von Tänzer*innen und Tanzvermittler*innen zur achtsamen Zuwendung und wertschätzendem Dialog als Schlüsselkompetenzen (vgl. Lehikoinen 2019). Tanz berührt. Das Geben und Nehmen von Bewegungen, die Kommunikation mit den Mitteln des Tanzes setzt Gefühle in Bewegung. Es sei nicht ungewöhnlich, erzählen Julia Leredde und Lauriane Madelaine, dass auch mal Tränen fließen. Davor haben die beiden keine Angst. Im Gegenteil: Diese besondere emotionale Qualität ist es, die sie an ihrer Arbeit schätzen.