Regisseurin Christine Vogt ist eine vielseitig ausgebildete Theatermacherin (u. a. bei Grotowski) und Kulturwissenschaftlerin, die als Betreuungsassistentin mit halber Stelle das Pflegewohnheim von innen kennengelernt hat. Ihr ist es gelungen, neben der Einrichtungsleitung auch die Stiftung Unionhilfswerk Berlin von ihrem bewährten Leitsatz zu überzeugen: „Theater öffnet Türen und kann Brücken bauen – zwischen Menschen, Generationen und Welten.“ Man vertraute ihr. Entspricht doch diese Behauptung dem Leitbild des Pflegewohnheims, dessen Bewohner*innen zwar der Betreuung bedürfen, doch keine Patient*innen sind. Das 1947 gegründete Unionhilfswerk betreut, unterstützt und begleitet täglich beinahe 5.500 Menschen in über 130 Einrichtungen. Unter Christine Vogts künstlerischer Leitung können die Mitwirkenden in der Theaterarbeit Gemeinschaft, Sinn und Lebensfreude erfahren, und es entstehen Brücken zwischen den Generationen. In ihre Inszenierungen mit den PAPILLONS fließen ihre Erfahrungen aus der Arbeit mit Menschen mit Behinderung und mit dem Berliner Theater Thikwa ein, das sie 1990 mitgegründet und bis 2004 geleitet hat.
Augenblicke poetischer Schönheit
„Wir wollen Demenz zeigen, weil sie jeden von uns treffen kann“, so Vogt. „Demenz heißt wörtlich übersetzt ‚ohne Geist‘. Der Geist als Träger des Lebensprinzips lässt sich aber nicht wegdenken. Und oft entstehen im vergessenen Zustand Augenblicke von poetischer Schönheit“, betont sie. Diesen Geist aufzuspüren, ihn hervorzulocken, darum geht es der Regisseurin, deren Musikalität (Gesang und Querflöte) oft direkten Zugang zum Gegenüber findet. Ihre Recherche beginnt mit der Biografie der Akteur*innen. Ungeordnet, selten chronologisch, eher wie „vom Hölzchen aufs Stöckchen“, tauchen Gelebtes und Geliebtes in der Erinnerung auf, und es erwächst ein emotionales Puzzle von Lebensfragmenten – ein Archiv, aus dem die Regisseurin für die zentralen Themen ihrer Inszenierungen immer wieder schöpft.
Totenwache
Inzwischen sind es schon neun Produktionen, die über die bekannten Gesichter eine zusammenhängende „unendliche Geschichte“ (Michael Ende) ergeben, obwohl von den ursprünglichen PAPILLONS nur noch zwei dabei sind. Seit 2023 vermissen die PAPILLONS ihre verstorbene Mitbewohnerin und Malerpoetin Aldona Gustas, die sich auf ihre Lage folgenden Vers gemacht hat:
Als letztes Stück einer Trilogie schloss sich „Totenwache“ nach „Passagiere“ und „Die Anprobe“ thematisch wie von selbst an. „Der Tod geht hier ein und aus. Das betrifft doch alle“, so Vogt. Sechs ausverkaufte Vorstellungen und rund 650 Zuschauer*innen bestätigen dies. „Totenwache“ ist ein Musiktheaterprojekt zwischen Ritual und überraschender Festlichkeit, mit Musik, Tanz und Lobreden beim fröhlichen Leichenschmaus, zu dem – wie auf den Friedhöfen in Mexiko – auch die Verstorbenen gebeten sind. Mit einem von den Kindern geleiteten Quiz der – schmerzlichen und versöhnlichen – Erinnerungen, mit Rätseln und Witzen. Als die zu früh erscheinenden Totengräber den Spaß verderben wollen, sind es die Kinder hinter ihren Masken, die sie mit schreiendem Mummenschanz vertreiben. Ein magischer Moment. Wie mühsam doch das Leichte erarbeitet werden muss: Keine Vorstellung gleicht der anderen, jede ein labiler Balanceakt für alle, vom Regieteam bis zum betreuenden, ehrenamtlichen Personal. Nicht zuletzt für die Akteur*innen selbst. Alle müssen einzeln und rechtzeitig aus ihren Zimmern abgeholt und an ihren Platz im Bühnenraum begleitet werden. Fehlen den Spieler*innen plötzlich Text und Zusammenhang, übernimmt die Regisseurin per Mikrofon die Moderation und führt sie mit ruhiger Stimme umsichtig aufs richtige Gleis, damit niemand irritiert ist und die Vorstellung Rhythmus und Atmosphäre behält.
Mit Kindern im Tandem
Seit der siebten Produktion – „Passagiere“ – gehören Kinder fest zum Ensemble der PAPILLONS. Allen ist ein Kind als Tandempartner*in zugeordnet, als wandelndes Gedächtnis für Situation und Stichwort. Wie es dazu kam? Der Anlass war: Corona. Die Initiative ergriffen zehnjährige Schüler*innen der Rütli-Schule in Kreuzberg, die sich erkundigten, wie es denn den alten Leuten im Heim erginge, die keinen Besuch empfangen dürften. So entstanden Brieffreundschaften zwischen den Kindern und den Heimbewohner*innen, später kam es auch zu Besuchen im Park. Mit Hochachtung spricht Christine Vogt von den Ehrenamtlichen, dem Betreuungs- und Pflegeteam, von dem großen Kreis künstlerischer Partner*innen, Musiker*innen und Darstellenden, nicht zuletzt den Kindern und deren Eltern, ohne die das Theaterensemble, das keine Regelförderung erhält, nicht überleben könnte. Denn Kultur ist nach wie vor eine Nische.
Unverzichtbare Unterstützung
Seit der ersten Produktion steht der Regisseurin eine unverzichtbare Kämpferin zur Seite: Stefanie Wind, Fachbereichsleiterin für die Projekte der Stiftung Unionhilfswerk Berlin. Sie bietet mehr als nur administrative und strukturelle Unterstützung. Sie betreut sämtliche Produktionen, über nimmt auch die Öffentlichkeitsarbeit. Darüber hinaus kümmert sie sich um die Beschaffung weiterer Mittel, da die Stiftung dieses einzigartige Kulturprojekt zwar personell, aber nicht finanziell fördert. Für jede neue Produktion müssen aufs Neue private Spenden und Sondermittel, beispielsweise über kleine Kunstaktionen, eingeworben werden. Den Rest müssen die Eintrittsgelder einbringen.
Seit April 2024 leitet Sebastian Merkel das Pflegewohnheim „Am Kreuzberg“ und hat die PAPILLONS mit übernommen, ihre Glorie eben so wie ihre Ansprüche. In summa könne er nur sagen, dass man „Am Kreuzberg“ stolz auf diese PAPILLONS sei – Mitarbeitende ebenso wie die Nachbarschaft. Kaum sei eine Produktion „abgespielt“, werde bereits die nächste ins Visier genommen. Schließlich müssten, abgesehen von den künstlerischen Entscheidungen, frühzeitig viele finanzielle und organisatorische Absprachen getroffen werden, zum Beispiel, was das Casting der mitwirkenden Heimbewohner*innen, die Reservierung des sonst als Veranstaltungsraum beanspruchten Theatersaals und den zusätzlichen, oft spontan erforderlichen Einsatz des Personals betrifft. Flexibilität ist Arbeitsvoraussetzung und Geduld die hohe Tugend, etwa, wenn sich wegen Probezeiten der normale Rhythmus von Mahlzeiten verschiebt. So autark dieses Theaterensemble ist, so fest verankert ist es inzwischen in der Einrichtung. Die PAPILLONS werden damit auch zukünftig an dem ungewöhnlichen Aufführungsort und durch die gewollte Nähe beim heterogenen Publikum Emotionen wecken – und dabei das angstbesetzte Bild von Demenz dem gesellschaftlichen Diskurs zuführen und das kulturelle Gedächtnis von alten Menschen hörbar und sichtbar machen.