
Die Dinge zum Leben erwecken – Alltagsobjekte in der kulturgeragogischen Arbeit der Puppenspielerin Spica Wobbe

© Chris Weber | Das Schattenspiel ist Werkzeug, um ältere Menschen zum Erzählen anzuregen
Im „Memory Project“ nutzt die Puppenspielerin Spica Wobbe Alltagsgegenstände, Puppen und Scherenschnitte als Ausgangspunkt für biografisches Erzählen älterer Menschen. kubia-Mitarbeiterin Dr.in Miriam Haller besuchte einen ihrer Workshops in Taiwan und sprach mit Wobbe über ihre kulturgeragogische Arbeit.
Warum Objekte eine so große Rolle in ihrer Kunst und ihrer Arbeit mit älteren Menschen spielen – das will ich von der Künstlerin Spica Wobbe wissen. „Weil ich Puppenspielerin bin“, antwortet sie mir, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Als ich sie etwas erstaunt anschaue, erklärt sie mir: „Die Theorie des Puppenspiels besagt, dass man ein lebloses Objekt zum Leben erweckt, indem man es bewegt oder ihm eine Stimme gibt und es mit der Vorstellungskraft des Publikums zum Leben erweckt. Deshalb sind Objekte für meine Kunst und meine künstlerisch-kulturelle Arbeit mit älteren Menschen so zentral.“
Mit Dingen die Angst überwinden
Spica Wobbe beschreibt sich selbst als schüchternen Menschen. Obwohl sie Performing Arts studiert hat, mag sie es nicht, auf der Bühne zu stehen:
„Ich bin keine gute Schauspielerin, aber wenn ich eine Puppe oder einen Scherenschnitt in der Hand habe, dann helfen diese Dinge mir, meine Angst zu überwinden.“
Als Teaching Artist hat sie inzwischen die Erfahrung gemacht, dass die Arbeit mit Puppen, Scherenschnitten und Alltagsdingen auch anderen Menschen Mut macht, sich künstlerisch auszudrücken. „Wir alle“, so erklärt sie, „benutzen jeden Tag unzählige Dinge, aber wir denken im Alltag wenig über die Bedeutung nach, die diese Objekte für unser Leben haben. Aber in der Kunst oder in der Kulturellen Bildung schaust du auf dieselben Objekte, und es kommen sofort ganz viele Gedanken.“ Während sie diese Sätze spricht, bewegt Spica Wobbe ihre Lesebrille in ihren Händen. Sie dreht sie in meine Richtung, sodass es mir vorkommt, als ob mich die Brille anschauen würde. Dann wendet sie die Brille zurück auf sich selbst und mit einem Mal scheint nicht mehr Wobbe, sondern ihre Brille mit mir zu sprechen.
Alltagsdinge sind international
Dinge, wie diese Brille, so erklärt mir Spica Wobbe weiter, würden eine sofortige Verbindung zwischen den Menschen herstellen. Es spiele keine Rolle, ob die Brille in Taiwan hergestellt wurde oder „Made in Germany“ sei. Die Menschen wüssten einfach, was eine Brille ist, und alle hätten eine Geschichte dazu im Kopf. „Ich denke vielleicht an meine Mutter, die eine Brille trug, wenn sie malte oder daran, wie frustriert ich war, als ich zum ersten Mal eine Brille brauchte.“ Jeder Mensch verbinde mit Alltagsobjekten biografische Geschichten, in denen die jeweils individuelle Lebenserfahrung zum Ausdruck kommt und trotzdem auch an geteilte Erfahrungen angeknüpft werden kann.
Werkzeuge zum Erzählen
Für Spica Wobbe sollten die Darstellenden Künste mit Geschichtenerzählen zu tun haben. „Wenn ich nur schön tanze, bedeutet das nichts. Es bedeutet nur etwas, wenn die Zuschauenden es auf sich selbst beziehen können.“ Mit ihren Workshops verfolgt sie nicht das Ziel, ältere Menschen zu Puppenspieler*innen auszubilden. Stattdessen sucht sie in ihrer kulturgeragogischen Arbeit nach „Werkzeugen“, die die Teilnehmenden verwenden können, um ihre Geschichte zu erzählen. Alltagsdinge, Puppen oder Schattenfiguren sind nach ihrer Erfahrung besonders geeignete Mittel, um das Erzählen in Gang zu setzen.
Puppenspiel in Taiwan
In Europa verbinden wir mit Puppen allzu oft nur die Kindheit, fast so, als dürften Puppen im fortgeschrittenen Alter keine Rolle mehr im Leben spielen. Dabei gibt es auch in Deutschland eine lange Tradition des Figurentheaters für alle Generationen. In Taiwan steht das Puppenspiel – wie in vielen asiatischen Ländern – in enger Verbindung mit der Religion: Es ist elementarer Bestandteil von religiösen Zeremonien und Ritualen und bildet eine Brücke zwischen Göttern und Menschen. Beim Puppenspiel im Rahmen von religiösen Festen kommen alle Generationen zusammen, was in Taiwan eine wichtige Rolle für das Community Building spiele, erläutert Spica Wobbe. Auch die taiwanische Regierung sei sehr bemüht, diese Tradition zu bewahren. Sie fördert Projekte, die diese traditionellen Künste mit Bildung kombinieren. Viele Schulen haben in Taiwan ihre eigene Puppenspielgruppe. In den USA und Europa würden die alten Traditionen und Rituale, in die Puppen eingebunden sind, insofern weiterhin eine Rolle spielen, als dass sie in die modernen Darstellenden Künste eingegangen seien und nun in den Künsten weiterentwickelt würden.
Das Schweigen beenden
In New York arbeitet Spica Wobbe häufig mit der ersten Generation von Migrant*innen aus China und Taiwan, die in die USA gekommen sind, um dort ein neues Leben zu beginnen. Bei ihrem nächsten Projekt konzentriert sie sich auf ältere Männer als Teilnehmende. Gerade weil es so schwer sei, Männer dazu zu bringen, bei Projekten Kultureller Bildung mitzumachen, findet Wobbe diese Adressatengruppe so interessant. Sie kennt das Problem, kaum etwas über die Biografie des eigenen Vaters zu wissen, aus eigener Erfahrung: „Mein Vater ging nach dem Chinesischen Bürgerkrieg von China nach Taiwan, aber er hat mir sein ganzes Leben lang nichts darüber erzählt.“ Das hat sie lange nicht verstanden, bis ihr nach einer ihrer Aufführungen eine Zuschauerin erklärt hat, wie schwer es sei, der Familie die eigene Biografie zu erzählen. Es sei zu nah. Darüber ist ihr klar geworden, welche Rolle Kulturgeragogik in der Auseinandersetzung mit und der Tradierung von Biografien spielen kann:
„In kulturgeragogischen Angeboten kann ein hilfreicher Abstand gewahrt werden, der Sicherheit gibt und das Gefühl, freier atmen zu können.“
Die Künste bieten ein Medium, in dem die Teilnehmenden Privates so erzählen können, wie sie es wollen: „Man kann auch etwas erfinden – oder im Schattenspiel die eigene Silhouette verändern.“ Der Freiraum der Künste hilft, auch schwierige Erlebnisse im Spiel zu verdichten und sie mit anderen Menschen zu teilen.