In Deutschland leben aktuell mehr als 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenz. In den kommenden Jahrzehnten ist infolge des demografischen Wandels mit weiter steigenden Zahlen zurechnen. Die Erkrankung beeinträchtigt nicht nur die Lebensqualität der Betroffenen – und geht häufig mit Stigmatisierung sowie gesellschaftlicher Exklusion einher –, sondern ist auch für das soziale Umfeld und die Pflegesysteme herausfordernd.
Bislang sind die meisten Demenzerkrankungen nicht heilbar. Präventive Maßnahmen sowie die Förderung der Lebensqualität von Betroffenen und deren Angehörigen sind daher zentrale Ziele in Forschung und Versorgung. Hierzu können in besonderer Weise auch musikalische Angebote einen Beitrag leisten: Zu den nachgewiesenen Wirkungen musiktherapeutischer Interventionen zählen beispielsweise die Verbesserung des kognitiven Status (vgl. Moreno-Morales et al. 2020), die Verringerung depressiver und neuropsychiatrischer Symptome wie Agitation (vgl. Wosch/Eickholt 2019) sowie positive Effekte auf Interaktions- und Kommunikationsverhalten (vgl. McDermott/Orrell/Ridder 2014). Neben musiktherapeutischen Angeboten finden in der Forschung mittlerweile auch musikalische Freizeitaktivitäten zunehmend Beachtung, da sie einem breiteren Personenkreis zugänglich sind und ähnliche Wirkungen zeigen (vgl. Särkämö 2018).
Demenzsensible Musikprojekte
Im Rahmen der nationalen Demenzstrategie der Bundesregierung hat der Bundesmusikverband Chor und Orchester e. V. (BMCO) als Dachverband der Amateurmusik in Deutschland im Jahr 2023 das vierjährige Förderprogramm „Länger fit durch Musik!“ ins Leben gerufen. Das Programm möchte die Lebensqualität von Menschen mit Demenz und pflegender Angehöriger verbessern sowie soziale und kulturelle Teilhabe ermöglichen. Insgesamt 43 modellhafte demenzsensible Ensembleprojekte wurden von einer Jury für eine finanzielle Förderung und eine begleitende Weiterbildung in den Jahren 2024 und 2025 ausgewählt. Drei Beispiele:
- Im Rahmen des intergenerationellen Chorprojekts „Rotkehlchen – Pettirosso“ besuchen Schüler*innen einer Gesamtschule wöchentlich ein Altenpflegeheim in Görlitz (Sachsen) zu gemeinsamen Chorproben. Zum gegenseitigen Kennenlernen startet jede Probe mit Kaffee und Kuchen. Mit Rhythmusinstrumenten und Bewegungselementen führen die Teilnehmenden das gemeinsam erarbeitete Programm abschließend in demenzsensiblen Sommer- und Adventskonzerten in der Pflegeeinrichtung auf.
- Unter dem Titel „Friedas Gartencafé musiziert“ veranstaltet die Evangelische Kirchengemeinde Kadelburg (Baden-Württemberg) regelmäßig Sing- und Musizierstunden für Menschen mit Demenz sowie parallel stattfindende moderierte Gesprächsrunden, in denen pflegende Angehörige Gelegenheit zu Austausch und Beratung erhalten. Jugendliche aus der Gemeinde werden im Umgang mit Menschen mit Demenz geschult und als Ehrenamtliche eingebunden.
- Bei der interaktiven Konzertreihe „Ein Lied für Dich“ des Nordbayerischen Musikbunds im Raum Würzburg (Bayern) können Menschen mit und ohne Demenz in Seniorenzentren und Tagespflegestätten zielgruppengerechten Musikvorträgen lauschen oder bei Sitztanz und gemeinsam gesungenen Liedern selbst aktiv werden. Ehrenamtliche Amateurmusiker*innen werden von Musiktherapeut*innen begleitet und geschult, um künftig eigene demenzsensible Konzerte zu gestalten.
Amateurmusik mit Reichweite
Wissenschaftlich wird das Programm von der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe in Kooperation mit dem Netzwerk Alternsforschung der Universität Heidelberg begleitet. So werden unter anderem durch Interviews, Fokusgruppen und Hospitationen Einblicke in die konkrete Praxis der Ensembles gewonnen und Perspektiven für die Amateurmusik ausgelotet. Mit vielfältigen Sensibilisierungsmaßnahmen leistet der Verband nicht nur wichtige Aufklärungsarbeit und ermutigt zum Engagement. Er gewinnt damit auch die Amateurmusik mit ihrer Reichweite als Partnerin für die gesamtgesellschaftliche Herausforderung Demenz. Auch in stationären und ambulanten Pflegesettings fördert das Programm das Bewusstsein für die Potenziale musikalischer Gruppenangebote und macht die Stärken von Kooperationen mit Ensembles der Amateurmusik sichtbar (vgl. Koch et al. 2025).
Musik in Pflegesettings
Die Einsatzmöglichkeiten von Musik in der Pflege sind vielfältig: Sie reichen von personalisierten Playlists über regelmäßige Einzel- und Gruppenangebote bis hin zur Sterbebegleitung. Neben Singrunden mit vertrauten Liedern eignen sich insbesondere im Gruppensetting auch Formate, die elementares Instrumentalspiel oder Sitztanzelemente integrieren. Einfache Bewegungsabfolgen, anregende Erlebnisthemen und intuitiv nachvollziehbare musikalische Strukturen rücken dabei kognitive Anforderungen in den Hintergrund und laden dazu ein, ins Tun zu kommen. Die gezielte Ansprache verschiedener Sinneskanäle erweist sich hierbei als besonders unterstützend: Passende Bilder oder Gegenstände können als visuelle Reize das Verständnis erleichtern und Assoziationen hervorrufen. Materialien aus der Rhythmik und Elementaren Musikpädagogik wie bunte Chiffontücher lassen sich kreativ einsetzen, um den Tastsinn einzubeziehen, die Feinmotorik zu fördern und zur Erkundung vielfältiger Bewegungsmuster anzuregen. Oftmals ist außerdem das Rhythmusempfinden noch lange ausgeprägt, sodass sich der Einsatz einfacher Rhythmusinstrumente und von Bodypercussion anbietet. Gerade wenn manche Teilnehmende nicht (hörbar) mitsingen, sind rhythmisches Mitklatschen, das Wippen mit dem Fuß oder (Mit-)Dirigieren zu einem Lied alternative und intuitive Formen musikalischer Beteiligung.
Wertschätzung und Beständigkeit
Damit ein musikalisches Gruppenangebot mit Menschen mit Demenz gelingt, sind die Atmosphäre und die Vermittlung von Sicherheit wesentlich. Das Erleben der stetigen Abnahme der eigenen kognitiven Fähigkeiten und Orientierung im Alltag fördert Gefühle von Scham, Angst, Wut oder Trauer und führt oftmals zur Vermeidung sozialer Aktivitäten. Eine wertschätzende und validierende Haltung der anleitenden Person sowie die Beständigkeit von Strukturen können dazu beitragen, einen geschützten Rahmen für musikalische und zwischenmenschliche Begegnung zu schaffen. Die Beständigkeit betrifft Zeit und Ort ebenso wie den Aufbau der Proben, etwa durch gleichbleibende Begrüßungs- und Abschiedsrituale oder wiederkehrende Abläufe. Je nach Setting und Gruppengröße kann es sinnvoll sein, Angehörige, Ehrenamtliche oder Betreuungs- und Pflegepersonal einzubeziehen, um die anleitende Person zu entlasten und dabei zu helfen, auf individuelle Bedürfnisse einzugehen oder mit unerwartetem Verhalten im Gruppenkontext umzugehen.
Musik öffnet Türen
Die bisherigen Erfahrungen des Programms „Länger fit durch Musik!“ zeigen deutlich: Die Amateurmusik kann nicht nur kulturelle Teilhabe für Menschen mit Demenz ermöglichen, sondern auch den Pflege- und Betreuungsalltag spürbar bereichern – sei es in Einrichtungen, im Quartier oder im häuslichen Umfeld. In der Amateurmusik sind zahlreiche engagierte Personen in unterschiedlichsten Formaten und Rollen aktiv, die als Multiplikator*innen wirken können. Über ihre Ensembles tragen sie das häufig tabuisierte Thema Demenz in die Öffentlichkeit, schaffen inklusive Begegnungsräume und ermöglichen Menschen mit Demenz gesellschaftliche Teilhabe. Gleichzeitig profitieren sie selbst – sowohl in der musikalischen Praxis als auch persönlich – durch die Beschäftigung mit dem Thema Demenz.