Zum Inhalt springen

Das bisschen Haushalt – Ein Porträt des Zeichners Lutz Möller

von Almuth Fricke

Seit seiner Kindheit zeichnet Lutz Möller immer wieder dieselben Haushaltsgeräte – Staubsauger, Bügeleisen, Mixer. Seit 1993 arbeitet er in der inklusiven Ateliergemeinschaft Geyso20 der Lebenshilfe Braunschweig, wo 27 Künstler*innen tätig sind. kubia-Leiterin Almuth Fricke besuchte ihn und Geyso20-Leiterin Nina Roskamp im Atelier.

Als ich an dem frostigen Februarmorgen im Geyso20 eintreffe, erwarten mich Lutz Möller und Nina Roskamp schon mit Kaffee im Sammlungsraum. Lutz Möller blättert konzentriert in einem dicken Aktenordner, in dem in Klarsichthüllen Prospekte und Abbildungen von Staubsaugern, Bügeleisen und anderen Haushaltsgeräten abgelegt sind. Das Foto von meinem Miele-Staubsauger S8340 EcoLine, das ich mitgebracht habe, bricht gleich das Eis. Lutz Möller ist begeistert, und wir finden gemeinsam eine Abbildung des Geräts in seinen Unterlagen.

Der Inbegriff des Staubsaugers

Seit über 60 Jahren sind Haushaltsgeräte die Passion des Künstlers. Er weiß, wie sie funktionieren, kennt unterschiedliche Modelle, Baureihen und Marken. Er informiert sich in Spezialkatalogen und hat eine Sammlung von Bügeleisen und Staubsaugerdüsen. Besonders gefällt ihm der Kobold der Firma Vorwerk, der für ihn der „Inbegriff eines Staubsaugers“ ist. Jeden Abend saugt er damit sein Zimmer in der Wohnstätte. Gemeinsam mit seinem Vater hat er als Kind angefangen zu zeichnen. Seitdem sind über 1.600 Zeichnungen entstanden. Viele davon zeigen auch den Handstaubsauger Kobold. Mit entschlossenem Strich und rascher Linienführung zeichnet er gut erkennbar die breite Bodendüse, den Motor und den großen Staubbeutel. Am Schluss wickelt er schwungvoll das lange Kabel um den Griff. Seine Antwort auf meine Frage, warum ihm gerade dieses Modell so gut gefalle, ist eindeutig: Es ist der Beutel, der ist so schön groß! Zum Geburtstag wünscht er sich, nicht überraschend, eine neue Düse – zur Ergänzung seines Vorwerk-Zubehörs.

Lebensthema

Nina Roskamp, die den Künstler seit über zehn Jahren in seiner Entwicklung begleitet, nennt Möllers Liebe zu den Haushaltsgeräten „sein Lebensthema, das man eigentlich erst richtig versteht, wenn man ihn kennenlernt und erlebt, wie er darüber spricht“. Er hat sich nie davon abbringen lassen. Das entspricht laut Roskamp der Grundhaltung von Geyso20: Das Atelier will Künstler*innen mit Beeinträchtigung Raum geben für künstlerische Entfaltung und die Entwicklung einer individuellen Bild- und Formensprache. Schon 1992 ist das Atelier als Modellprojekt der Bundesvereinigung Lebenshilfe entstanden. Über die Jahre sind eine Galerie und eine Sammlung hinzugekommen.

Heute zeichnet Lutz Möller kaum noch, vor allem nicht mit Bleistift. Eher noch mit Kugelschreiber. Der 66-Jährige ist inzwischen Rentner, kommt aber weiterhin montag- und dienstagvormittags ins Atelier. Er sitzt dann meist auf dem Sofa unter dem großen Atelierfenster und beschäftigt sich mit seinen Prospekten. Dabei ist er ganz für sich.

Mit den Haushaltsgeräten verbindet er aber auch sein familiäres Leben: Er erzählt mir über das Backen und Wäschemachen mit seiner Mutter. Die Dinge, die er zeichnet, stehen für diese starke Verbindung und erinnern ihn an seine Kindheit.

Wäschemachen

Im Laufe unseres Gesprächs lachen wir viel. Manchmal ist Lutz Möller aber auch traurig und denkt an seinen Vater, der vor einiger Zeit verstorben ist. Wir unterhalten uns nicht nur über Staubsauger, sondern auch über das Waschen und Bügeln. Dies ist eine weitere Leidenschaft des Künstlers. Davon zeugen die vielen Zeichnungen, in denen die Wäsche sorgfältig festgeklammert an der Leine hängt und sich leicht im Wind bewegt. Auf sie warten schon das Bügelbrett und ein Bügeleisen in Habachtstellung mit aufrechtem Kabelhalter. Passend dazu hören wir – unterstützt von Spotify – „Das bisschen Haushalt …“ von Johanna von Koczian. Bei „Das bisschen Wäsche ist doch kein Problem, sagt mein Mann, und auch das Bügeln schafft man ganz bequem, sagt mein Mann“ stimmt Schlagerfreund Möller begeistert ein. Und er erzählt, wie er am Vortag stundenlang gebügelt habe.

Wahrnehmungsschärfung

Aber zurück zu seiner Kunst: In ihrer Konzentration auf das Wesentliche entfalten Lutz Möllers Zeichnungen eine eigene Schönheit. Sie sind nicht nur eine detaillierte Langzeitstudie der abgebildeten Geräte und ihres Gebrauchs im Alltag. Sie verweisen auch auf den Wert von Dingen, die im Alltag häufig übersehen werden. „Der Alltag kann überhaupt als ein Ort beschrieben werden, in dem es in einem nahezu existenziellen Sinn um Wahrnehmungsreduktion, nicht um Wahrnehmungsschärfung geht“, schreibt der Philosoph Konrad Paul Liessmann (2010, S. 25). Lutz Möller kehre dieses Muster um und konzentriere sich auf wenige Aspekte, schreibt der Kunsthistoriker und Kurator Andreas Bee im Katalog zu Lutz Möllers erster Einzelausstellung „Das Wesen des Staubsaugers“, die 2024 in der Galerie von Geyso20 zu sehen war: „Seine erhöhte, langanhaltende Aufmerksamkeit den Gegenständen gegenüber hat eine tiefe Verinnerlichung zur Folge, die wiederum die Grundvoraussetzung für die schnell gesetzte Skizze bildet. […] Sie [die Zeichnungen] erzeugen ein Bewusstsein für jene Dinge, die uns bisher nicht beachtenswert erschienen.“ (Bee 2024, S. 8)

Sammlung

Im Sammlungsraum, in dem wir miteinander sprechen, lagern rund 70 Kunstwerke von Lutz Möller, gezeichnet auf unterschiedlichsten Bildträgern und sortiert nach Gerätearten. Ich darf einen Blick in seinen Sammlungskarton werfen. Mit der Sammlung soll das Selbstverständnis der Künstler*innen gestärkt, ihre Kunst bewahrt werden und der Forschung zu Verfügung stehen. Im Jahr 2012 hat Geyso20 eine Stiftung gegründet, um ein kuratiertes Oeuvre der Künstler*innen des Ateliers rechtlich abzusichern. Weitere neun Arbeiten Möllers sind im vergangenen Jahr von der Sammlung Zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland angekauft worden. Neben der erwähnten Werkausstellung wurden seine Arbeiten in Gruppenausstellungen, unter anderem in Berlin, Köln, Brüssel, Chicago, und zuletzt im Frühjahr 2025 im Sprengel Museum Hannover in der Ausstellung „Das Atelier als Gemeinschaft“ gezeigt. Am Ende des Vormittags muss Lutz Möller los. Er will noch in die benachbarte Möbelhalle der Lebenshilfe – Küchengeräte und CDs anschauen. Wir verabreden uns zum Gegenbesuch in Köln. Dann wollen wir meinen Staubsauger mal genauer untersuchen.

Andreas Bee (2024): I Want to Break Free. In: Das Wesen des Staubsaugers. Lutz Möller. Katalog zur Ausstellung in der Galerie Geyso20. Braunschweig, 27.04.-05.07.2024, hrsg. von Nina Roskamp. Braunschweig, S. 7-10.

Konrad Paul Liessmann (2010): Das Universum der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen. Wien: Paul Zsolnay.

Weiterstöbern in Fachbeiträgen:

Schattenfiguren werden auf eine Leinwand projiziert
  • Porträt

Die Dinge zum Leben erwecken – Alltagsobjekte in der kulturgeragogischen Arbeit der Puppenspielerin Spica Wobbe

In ihrer künstlerisch-kreativen Arbeit mit älteren Menschen erweckt die Puppen- und Schattentheaterspielerin Spica Wobbe Alltagsdinge und Puppen zum Leben. Miriam Haller hat sie in Taiwan getroffen.

In einem mit Stuck verziehrten Ausstellungsraum hängen an Mobiles große, schwarz-weiß gemalte Tierfiguren. Im hintergrund ist eine antike Frauenstatue zu sehen.
  • Porträt

Schutztiere mit dickem Fell – Ein Porträt über die Künstlerin Bärbel Lange

Bärbel Lange ist eine Künstlerin, deren Werk tief in ihren persönlichen Erfahrungen und ihrem sozialen Engagement verwurzelt ist. Almuth Fricke und Isabell Rosenberg haben sie für das kubia-Magazin porträtiert.

Zwei ältere Personen mit Baseball-Kappen und -Jacken, die an einem Picknicktisch sitzen.
  • Porträt

„Ich weiß einfach, dass ich bin.“ – Bilder von queeren Lebensentwürfen im Alter

Der Fotoband „To Survive on This Shore“ von Jess T. Dugan und Vanessa Fabbre gibt Einblicke in 90 Jahre gelebte Erfahrungen von älteren Trans*- und Inter*-Personen in den USA. Miriam Haller stellt ihn vor.

Eine Frau mit roter Plüschjacke, Hotpants und Plateauschuhen sitzt mit angewinkelten Beinen auf einer Drehscheibe
  • Porträt

Dance Your Skin – Ein Plädoyer für sichtbares Alter

Mit den Künstlerinnen der interdisziplinären Performance „DanceYourSkin“ traf sich kubia-Mitarbeiterin Imke Nagel nach einer Aufführung in den Kölner ehrenfeldstudios zum Gespräch.

Porträt Christine Rißmann
  • Porträt

Lesefutter per Medienboten – Ein Porträt der Hamburger Kulturgeragogin Christine Rißmann

Mit dem mobilen Bücherdienst der „Medienboten“ versorgen Ehrenamtliche Senior*innen zu Hause mit Literatur. Kulturgeragogin Christine Rißmann betreut das Programm der Hamburger Bücherhallen und erweitert es stetig.

Annie We in Aktion mit ihrer intergenerationellen Gruppe
  • Porträt

Achtung! Spielfreude! Unterwegs mit der Kulturgeragogin Annie We

Die Kulturgeragogin Annie We begegnet Älteren und intergenerationellen Gruppen mit Ukulele, einem Erinnerungskoffer und viel Lust an Improvisation und (Theater-)Spiel.

Petra Kellermann steht zwischen Gegenständen zur Farbe Gelb und einem Gemälde mit Sonnenblumen
  • Porträt

Raus ins Grüne – Sinnliche Naturerlebnisse mit der Kulturgeragogin Petra Kellermann

Petra Kellermann gestaltet Kulturnachmittage im Grünen für Menschen mit Demenz und deren Angehörige. Passend zum jeweiligen Veranstaltungsort wählt sie Kunstwerke, Gedichte und Musikstücke aus.

Noch Fragen?

Sie möchten sich zu unseren Themen beraten lassen oder mehr über unsere Veröffentlichungen erfahren? Sprechen Sie uns gerne an!

Ansprechpartnerin

Porträtfoto von Almuth Fricke in einer gelben Bluse vor einem türkisfarbenen Hintergrund

Almuth Fricke

Ansprechpartnerin

Porträt von Miriam Haller

Miriam Haller