Der Begriff „Community Music“ bezeichnet das freiwillige Musizieren in Gruppen, das nicht durch Lehrpläne oder andere äußere Vorgaben bestimmt wird. Im Unterschied zu vielen anderen Ansätzen der Musikvermittlung handeln in Community-Music-Angeboten die Beteiligten untereinander aus, welche Musik mit welchen Mitteln gespielt oder gesungen werden soll. Musikalische und soziale Aktivitäten gehen dabei ineinander über. Community Musicians verstehen Musik als ein menschliches Grundbedürfnis, das wesentlich dazu beiträgt, soziale Gemeinschaften zu bilden und zu festigen. Der niedrigschwellige Zugang soll möglichst vielen Menschen, unabhängig von Alter, Behinderung, Geschlecht, Herkunft, Einkommen, Religion und (musikalischer) Bildung einen Weg zu musikalischen und sozialen Aktivitäten ebnen und ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen (vgl. Banffy-Hall/Hill 2017).
When you’re smiling
Auch zu den Community-Music-Angeboten des Konzerthauses Dortmund soll jeder Mensch kommen können und sich dort willkommen fühlen. Das habe bei den älteren Menschen aber lange Zeit nicht gut geklappt, berichtet der Leiter der Dortmunder Community Music Matthew Robinson: „Wir haben festgestellt, dass es hier in der Gegend viel soziale Isolation gibt und viele ältere Menschen nicht zu unseren offenen Angeboten kommen – trotz unserer Bemühungen, sie einzuladen. Also haben wir ein spezielles Programm entwickelt.“ Unter dem Motto „When you’re smiling“ organisierte das Community-Music-Team 2021 mit einer Förderung aus dem Fonds Kulturelle Bildung im Alter vier Musik-Workshop-Reihen für ältere Menschen an unterschiedlichen Orten – etwa einem Gemeindehaus oder einem Nachbarschaftstreff – in verschiedenen Dortmunder Stadtteilen. Über die Zeitung, die Zusammenarbeit mit Seniorenbüros und die Auswahl von Veranstaltungsorten, die Senior*innen bereits besuchten, gelang es, ein bunt gemischtes Feld an älteren Teilnehmenden aus ganz Dortmund anzusprechen.
Vom Pilotprojekt zum Selbstläufer
Nach Ende des Pilotprojekts findet das gemeinsame Singen für alle ab 60 Jahren nun im Foyer des Konzerthauses statt – immer montags und ohne Anmeldung. Seit dem gemeinsamen Musizieren mit dem Mahler Chamber Orchestra im Februar 2024 singen die Senior*innen immer wieder einmal im Konzertsaal, denn laufend kommen neue Teilnehmende hinzu. Mit oft über 100 Menschen wird es eng im Foyer. Doch nicht nur wegen der Raumgröße wechselt Marleen Kiesel, die das Angebot nun unter dem Titel „Sing, sing, sing!“ leitet, gerne vom Eingangsbereich des Konzerthauses in den großen Saal: „Der Ort ist so besonders. Er strahlt einfach aus auf die Leute, die auf der Bühne stehen. Sie fühlen sich anders beim Singen und es klingt ganz anders. Das ist eine völlig andere Wertschätzung.“ Mittlerweile ist das Angebot ein Selbstläufer: „Was wir sonst als Team machen, wird jetzt von den Teilnehmenden übernommen: Jede Person hat ihren Platz, der Kuchen wird verteilt und wenn Leute neu reinkommen, dann werden sie willkommen geheißen und in die Gruppe aufgenommen“, erzählt Kiesel.
Obwohl die Gruppe kein klassischer Chor sei und auch nicht werden wolle, habe sich das musikalische Spektrum stark erweitert. Während zu Beginn vor allem Schlager und alte deutsche Lieder gesungen wurden, gehören nun auch fremdsprachige Titel zum Repertoire. „Da ist ganz viel musikalische Entwicklung“, sagt Kiesel. Neben Stimmentwicklung beobachtet sie ein gewachsenes Selbstbewusstsein, mit dem sich die Teilnehmenden auch an vermeintlich schwierige Stücke heranwagen. „Wenn ich mit ‚Boxon Vital’ in der ersten Woche um die Ecke gekommen wäre, hätte ich die Teilnehmenden überfordert. Aber nach dem Weg, den wir über zwei, drei Jahre gemeinsam gegangen sind, kann ich das ganz einfach einstreuen.“
Kontinuität und Evaluation
Woche für Woche spürt Kiesel, wie wichtig das kostenfreie Angebot für viele ältere Menschen gerade aus den ärmeren Dortmunder Vierteln in der Nachbarschaft des Konzerthauses geworden ist. „In dem Moment, wo wir mit ‚Sing, sing, sing!‘ angefangen haben, sind wir eine Verpflichtung eingegangen. Durch diese Kontinuität, diese langfristigen Beziehungen der Teilnehmenden untereinander, aber natürlich auch zu uns und zu dem Ort, wird das freigesetzt, was Community Music im Herzen kann und ist.“ Dass die Teilnehmenden aus allen Teilen Dortmunds und aus allen sozialen Schichten kommen, wissen Kiesel und Robinson aus Befragungen zur Evaluation des Angebots und aus Gesprächen, in denen sie persönliche Geschichten von defekten Heizungen oder Geldmangel hören.
Das Team evaluiert seine Arbeit laufend, damit „Sing, sing, sing!“ und die weiteren Community-Music-Angebote des Konzerthauses nicht nur jene erreichen, die bereits Konzertgänger*innen sind, sondern auch diejenigen, die sonst kaum den Weg ins Konzerthaus finden würden. Matthew Robinson weiß, dass auch verborgene Barrieren, einen Besuch verhindern können. Beispielsweise bleiben Menschen selbst bei freiem Eintritt einer Kulturveranstaltung fern, aus Sorge, keine angemessene Kleidung zu haben oder „da nicht hinzugehören“. Deshalb legt das Dortmunder Team großen Wert darauf, den Menschen das Gefühl zu geben, willkommen zu sein. „Und das ist leichter gesagt als getan“, betont Robinson. Beispielsweise habe man bei Konzerten des London Symphony Orchestra „geführte Konzertabende“ angeboten. Dafür konnte das Community-Music-Team Freikarten verschenken. „Aber wir haben sie nicht einfach verschenkt.“ Vielmehr habe man die Menschen persönlich eingeladen und ihnen signalisiert, dass man sie den ganzen Abend über begleiten werde – und zwar in der „Uniform“ der Dortmunder Community Musicians: Jeans und Hoodie.
Mit allem jonglieren können
Neben einem nahbaren Erscheinungsbild gehören ein Gespür für die Gruppe und die Bedürfnisse ihrer einzelnen Mitglieder zum Anforderungsprofil eines Community Musicians. „Meine Rolle ist es, die leisen Stimmen lauter zu machen und die lauten Stimmen einzufangen“, sagt Marleen Kiesel. Deshalb gebe es auch keine festen Regeln oder gar Abstimmungen bei der Auswahl der Lieder. „Oft folgt man einem Gefühl. Wenn ich zum Beispiel höre, dass sich eine Person ein Lied wünscht, die vorher noch nie etwas gesagt hat, gehe ich da natürlich mit. Das ist meine Pflicht als Community Musician, dass ich diese Person sehe und anerkenne, was für eine Kraft sie die Wortmeldung gekostet hat.“ Community Musicians brauchen die Fähigkeit, spontan zu reagieren und zu improvisieren – musikalisch wie auch im sozialen Miteinander.
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