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Woran hängt dein Herz? Über Erinnerungsstücke Kriegskinder verstehen lernen

Für ihr Buch „Warum hängt daran dein Herz? Wie Erinnerungsstücke aus der Kriegszeit helfen, unsere Eltern zu verstehen“ stellen Annette und Hauke Goos Erinnerungsstücke aus der Kindheit von deutschen Kriegskindern vor und bringen ihre Besitzer*innen zum Erzählen. Darunter sind auch prominente Stimmen wie die des kürzlich verstorbenen ehemaligen Innenministers, Menschenrechtsanwalts und Kulturpolitikers Gerhart Baum oder der Schauspielerin Hanna Schygulla. Im Gespräch mit der kubia-Redaktion erläutert das Paar, wie die Gegenstände helfen können, unsere Eltern und Großeltern besser zu verstehen.

Was hat Sie dazu inspiriert, Dinge „sprechen“ zu lassen und dieses Buch zu schreiben?

Hauke Goos: Wir haben dieses Buch vor allem erst einmal für uns gemacht. Weil wir unsere eigenen Eltern besser verstehen wollten. Und weil uns die Frage beschäftigte, warum wir zu unseren Eltern eine gewisse Distanz haben. Oder sie zu uns. Unsere Väter sind beide Kriegskinder, beide sind Jahrgang 1938. Sie waren Kinder, als der Krieg zu Ende ging, aber von der Not, von der Verzweiflung haben sie natürlich etwas mitbekommen.

Annette Goos: Beide waren sehr sachliche Menschen. Mit Gefühlen konnten sie nicht viel anfangen. Wenn ich mich als Kind mal über etwas sehr gefreut habe, hieß es schnell: Jetzt übertreib mal nicht.“ Und wenn ich wegen irgendetwas geweint habe, sagte mein Vater: Was heulst du denn jetzt schon wieder? Du bist aber auch empfindlich.“ Und dann gab es einen Moment, in dem mein Vater plötzlich emotional wurde. Meine Eltern lebten in Berlin. Kurz vor seinem Tod, da war er schon schwer krank, hat er sich aufgerafft und ist an den Ku’damm gefahren, zu einem Geschäft mit Steiff-Tieren. Dort hat er zwei Teddys gekauft, für unsere damals noch kleinen Zwillingssöhne. Das war ihm wahnsinnig wichtig. Er hat mir dann erzählt, dass er früher auch so einen Teddy hatte, der dann aber auf der Flucht verloren ging. Dieser Teddy war sein Ein und Alles, sein Trost in den Kriegsjahren, als er seinen Vater verloren hatte und für einige Zeit in ein Heim gegeben wurde. Als er von diesem Teddy erzählte, wurde seine Stimme sehr weich. Mein Vater, der nie Gefühle zeigte, wurde plötzlich emotional. Die Erinnerung an diesen Teddy, den es längst nicht mehr gab, hatte es geschafft, bei meinem Vater etwas auszulösen. Ich habe in dem Moment begriffen, welche Kraft ein solcher Gegenstand haben kann.

Sie unterscheiden in Ihrem Buch die Kriegskinder von den Kriegsenkeln. Welche Merkmale charakterisieren diese beiden Generationen?

Hauke Goos: Als Kriegskinder bezeichnet man die Jahrgänge von 1928 bis 1946. All jene also, die während des Kriegs Kinder oder Heranwachsende waren. Sie sind zu jung, um in der Nazizeit Schuld auf sich geladen zu haben. Andererseits waren sie natürlich alt genug, um Bombenkrieg, Hunger, Flucht und Vertreibung mitzubekommen.

Annette Goos: Die Kriegsenkel, das ist die Generation danach, die Kinder der Kriegskinder. Ihnen fiel die Gefühlstaubheit ihrer Eltern auf, die nicht loben und auch nicht umarmen konnten. Struktur, Ordnung und Kontrolle war diesen Eltern so wichtig, dass wenig Platz blieb für Lebensfreude und Zärtlichkeit. Jeder Kriegsenkel kennt Sätze wie: Was sollen die Nachbarn denken?“ Oder: Stell dich nicht so an!“ Oder: Reiß dich zusammen!“

Hauke Goos: Und sie spüren einen Schmerz, von ihren Eltern nicht das bekommen zu haben, was Kindheit ausmacht: Wärme, Geborgenheit, Zuspruch, Anerkennung.

Sie sprechen in Ihrem Buch vom Ideal des „sachlichen Menschen“, das die Generation der Kriegskinder geprägt habe. Was macht dieses Idealbild aus?

Hauke Goos: Die Generation der Kriegskinder, die Generation unserer Eltern also, hat zusätzlich zur Kriegserfahrung auch noch die nationalsozialistische Erziehung im Gepäck. Diese Erziehung war darauf ausgelegt, dass die Kinder weder Bedürfnisse noch Gefühle äußern durften. Fast alle jungen Familien hatten damals den Erziehungsratgeber Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer zu Hause. Gefühle galten als bedrohlich. Der Mensch ist böse, sagt Haarer, er muss erst einmal unter Kontrolle gebracht werden.

Annette Goos: Für die Mutter bedeutete das, auf keinen Fall auf ihr Kind einzugehen. Alle Gefühle sollten reguliert werden. Viele Mütter haben ihre Kinder nur zur Körperpflege und zum Füttern aufgenommen und ansonsten allein gelassen.

Hauke Goos: Wenn ein Kind stundenlang schreit, ohne dass sich jemand darum kümmert, erschüttert das natürlich das Verhältnis zur Welt. Wenn das Kind das Gefühl hat, nicht geschützt zu werden, kann das dramatische Folgen haben. Das Selbstwertgefühl leidet enorm.

Woher kommt diese Sprachlosigkeit zwischen diesen Generationen, und was wird verschwiegen?

Hauke Goos: Die Generation der Kriegskinder kann meist nicht über sich selbst sprechen – weil es sie als Subjekt, als Menschen mit eigenen Gefühlen und Bedürfnissen gar nicht gibt. Die Angehörigen dieser Generation sind kaum geübt darin, nach innen zu schauen und zu sagen, wie es ihnen geht, was sie belastet.

Annette Goos: Die Vergangenheit, die oft auch traumatische Erlebnisse enthält, wird meist nur als Schwere wahrgenommen, als Last. Das äußert sich häufig somatisch, als Migräne oder Depression. Aber die Betroffenen wissen nicht, woher das kommt, sie stellen keinen Zusammenhang zu ihren Kriegserlebnissen her.

Können Erinnerungsstücke aus Kriegszeiten helfen, die Sprachlosigkeit zu überwinden und mit den nachfolgenden Generationen über das Kriegserleben zu sprechen?

Hauke Goos: Es ist verblüffend, wie viele Kriegskinder Erinnerungsstücke aus der Kriegszeit aufbewahrt haben, bis heute. Mal ist es eine Munitionskiste, in der seit jeher das Schuhputzzeug aufbewahrt wird, mal ein Kleiderbügel, den die Mutter mit auf die Flucht genommen hatte.

Annette Goos: Die Idee war: Wenn die Menschen keine Worte finden, dann sprechen eben die Gegenstände. Vielleicht, so hofften wir, fällt es den Menschen leichter, über etwas Abstraktes wie Einsamkeit oder Trauer zu sprechen, wenn wir sie nach etwas Konkretem fragen.

Welche Funktionen haben die Erinnerungsstücke im Leben der von Ihnen interviewten Personen?

Annette Goos: Auf diesen Gegenständen hat sich die Erinnerung gleichsam abgelagert. Die traumatischen Kriegserlebnisse sind darin eingeschlossen wie in Bernstein.

Hauke Goos: Die Kriegskinder hängen an diesen Gegenständen, aber sie wissen gar nicht so richtig, warum. Häufig sind sie ohne jeden materiellen Wert, oftmals sind sie nicht einmal besonders schön. Wenn wir fragten, warum diese Gegenstände über Jahrzehnte aufgehoben wurden, lautete die Antwort meist: So etwas schmeißt man doch nicht weg.“ Die Menschen spüren, dass der Gegenstand den Schlüssel zu ihrem Leben enthält, aber sie können es selbst nicht formulieren.

Annette Goos: Für ihre Besitzer stehen diese Gegenstände für ein Idyll, für eine Zeit, bevor ihre Welt in Trümmer fiel. Oft sind sie das Einzige, was aus einer Kindheit geblieben ist. Die Gegenstände sind, im Wortsinn, Habseligkeiten.

Im Vorwort zitieren Sie die Therapeutin Ingrid Meyer-Legrand, dass viele Kriegskinder befürchteten, wenn sie einmal begönnen, über die Kriegsschrecken zu reden, die Schleuse des Schmerzes nicht mehr schließen könnten. Wie sind Sie mit dieser Befürchtung vor Retraumatisierung in Ihren Gesprächen umgegangen?

Annette Goos: Am Anfang hatten wir tatsächlich die Sorge, unsere Fragen könnten verschüttete oder verdrängte schmerzhafte Erinnerungen an die Oberfläche bringen. Und manchmal wurden unsere Gesprächspartner tatsächlich von ihren Gefühlen übermannt. Ein Mann hatte eine Schöpfkelle aufgehoben. Und während er über seine Kindheit sprach, über die Kinderlandverschickung, über die Einsamkeit in der Fremde, über das Gefühl des Verlassenseins, fing er plötzlich an zu weinen. Das Heimweh holte ihn wieder ein.

Hauke Goos: Da sitzt also ein 91-jähriger Mann vor uns, der von einer Zeit erzählt, die über 80 Jahre zurückliegt. Und der Schmerz von damals ist so überwältigend, dass er ihn beim Erzählen noch einmal fühlt. Das hat uns sehr berührt, weil es zeigte, wie tief die seelischen Verwundungen sind.

Annette Goos: Am Anfang unserer Gespräche haben wir immer eine Regel vereinbart: Wir dürfen alles fragen, aber unsere Gesprächspartner müssen nicht alles beantworten. Und: Wir nehmen uns sehr viel Zeit. Wir sind beide Journalisten. Und da wir in vielen Jahren sehr viele, auch heikle, Gespräche geführt haben, haben wir, glaube ich, ein gutes Gespür dafür, wann man nachfragen muss und wann besser nicht.

Hauke Goos: Wir haben in allen Gesprächen, ohne Ausnahme, festgestellt, dass diese Menschen froh sind, über ihre Gefühle einmal sprechen zu können. Unsere Neugier war echt, wir waren an den Antworten und Geschichten wirklich interessiert. Ich denke, das haben diese Zeitzeugen gespürt.

An welchem Erinnerungsstück und der damit verbundenen Geschichte in Ihrem Buch hängt besonders Ihr Herz?

Annette Goos: Wir haben, als wir schon fast fertig mit der Recherche waren, eine Frau getroffen, sie war Mitte 80. Sie erzählte uns, wie sie nach dem Krieg als kleines Mädchen in ein russisches Arbeitslager gebracht wurde. Wie sie gehungert hatte, wie sie ihre Mutter sterben sah, wie sie mutterseelenallein in einem Kinderheim unterkam. Die ganze Zeit über hatte sie sich an ein Fotoalbum mit Bildern aus ihrer glücklichen Kindheit geklammert, das hatte sie auf ihrer Odyssee dabei. Es half ihr zu überleben. Und während sie von diesem Grauen erzählte, saß sie vor uns, eine beeindruckende Frau mit einer unglaublich positiven Ausstrahlung. Wie sie das alles ausgehalten hat, haben wir sie gefragt. Ihre Antwort: Man könne solche Erlebnisse nicht aufarbeiten. Sie habe nach dem Krieg einfach gelebt, gelebt, gelebt.

Was hat Sie in Ihren Gesprächen besonders berührt und welche persönliche Erkenntnis nehmen Sie aus der Beschäftigung mit dem Thema mit?

Annette Goos: Uns ist durch die Gespräche noch einmal klar geworden, was diese Generation durchgemacht, was sie geleistet hat. Für uns Kriegsenkel bleibt die Erkenntnis: Selbst wenn das Verhältnis zu den eigenen Eltern schwierig ist, geht es nicht um Vorwürfe oder Schuld, sondern um Verständnis.

Hauke Goos: Das ist auch ein großer Trost. Unsere Eltern haben getan, wozu sie in der Lage waren. Der Krieg hat sie beschädigt, das Erlebte hat sie sprachlos gemacht. Am Ende sind sie immer auch Kinder ihrer Zeit. Die insgesamt 36 Begegnungen haben uns geholfen, auch unsere eigenen Eltern mit anderen Augen zu sehen.

Annette und Hauke Goos stehen an der Außenalster.© Dmitrij Leltschuk

Annette Goos, Jahrgang 1967, studierte Psychologie und Publizistik, bevor sie als Reporterin zum Fernsehen ging. Seit einigen Jahren verfasst sie Biografien unter dem Titel „100 Fragen – eine Bilanz“.

Hauke Goos, Jahrgang 1966, arbeitete nach dem Geschichtsstudium zunächst für das SAT.1-Magazin „Akte“, ehe er 1999 zum Magazin „Spiegelreporter“ kam. Von 2001 bis 2022 schrieb er für das Reportagenressort des „Spiegel“. Heute leitet er dort das Sportressort.

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