Ortskundig – Möglichkeitsräume altersinklusiver Kulturarbeit
Diese Ausgabe der Kulturräume+ widmet sich dem Thema Räume aus unterschiedlichen Perspektiven: als Freiräume der kulturellen Teilhabe, Erlebnisorte und architektonische Lebensräume.
Dass die Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen vielfältig ist, daran besteht kein Zweifel. Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts, unterschiedlicher Herkunft, Religion und sexueller Orientierung prägen das gesellschaftliche, kulturelle und politische Leben. Eine in allen gesellschaftlichen Bereichen akzeptierte und aktiv gelebte Selbstverständlichkeit ist Diversität aber (noch) nicht. Dem gilt es, auch kulturpolitisch, zu begegnen.
Das betrifft eben auch den Kunst- und Kulturbereich, der zwar wichtiges Verhandlungsmedium für diesen Diskurs ist, in seinen Strukturen aber bisweilen hinter seinem – und unserem – Anspruch zurückbleibt. Denn es steht außer Frage, dass Teile der Bevölkerung im Publikum, in den Programmen und in der Gruppe der Akteurinnen und Akteure des Kulturbetriebs bislang unterrepräsentiert sind.
Laut Teilhabebericht des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2020 nehmen beispielsweise Menschen mit einer Behinderung prozentual deutlich weniger an kulturellen Angeboten teil und werden seltener künstlerisch aktiv als Menschen ohne Behinderung (vgl. MAGS NRW 2020, S. 190-193). Selbiges gilt für Menschen mit Migrationsgeschichte (vgl. Allmanritter 2017, S. 5). Viele Kulturinstitutionen bewerten Diversität zwar als wichtiges Handlungsfeld für die Zukunft und initiieren überzeugende Projekte, in der konkreten Umsetzung bleiben aber vor allem strukturelle Maßnahmen zurück.
Vor diesem Hintergrund ist die Landesregierung angetreten, das Thema – auch – kulturpolitisch stärker in den Blick zu nehmen und konkrete Entwicklungsmaßnahmen zu ergreifen. Denn Diversitätsentwicklung im Kunst- und Kulturbereich ist weit mehr als die Umsetzung rechtlich längst verbindlicher Vorgaben. Diversität schafft Impulse für Perspektivwechsel und Erneuerung und stellt in jeder Beziehung einen Gewinn für den Kunst- und Kulturbereich dar. Eine Öffnung des Publikums ist zudem in wirtschaftlicher und sozial-integrativer Hinsicht relevant, stützt sie doch die Legitimation des öffentlich geförderten Kultursektors.
Um der Tragweite des Themas gerecht zu werden und kontinuierliche und nachhaltige Arbeit zu ermöglichen, hat das Ministerium für Kultur und Wissenschaft im vergangenen Jahr ein neues Referat geschaffen, das damit betraut ist, ein Gesamtkonzept zur Stärkung von Diversität und Teilhabe in Kunst und Kultur zu entwickeln und umzusetzen. Dem ganz bewusst beteiligungsorientierten Entwicklungsprozess lag die Haltung zugrunde, dass Diversität als „Normalzustand“ und damit als Querschnittsthema in allen Bereichen der Kulturförderung und des Kulturbetriebs verstanden werden muss. Das im Juni 2021 dem Ausschuss für Kultur und Medien des nordrhein-westfälischen Landtags vorgelegte Konzept verfolgt im Wesentlichen die folgenden Ziele:
Rund drei Millionen Euro sind für die Umsetzung des Konzepts vorgesehen, davon eine Million aus der Stärkungsinitiative Kultur. Das Konzept ist maßgeblich darauf angelegt, zwei parallele Entwicklungsprozesse anzustoßen und voranzutreiben: Es integriert einerseits kurz- und mittelfristige Maßnahmen, die auf bislang unterrepräsentierte Zielgruppen fokussiert und zugeschnitten sind. Andererseits wird eine Bewusstseinsveränderung in den etablierten Strukturen (reguläre Förderprogramme, Einrichtungen, Kulturangebote) initiiert, die eine Sensibilisierung für das Thema und langfristige strukturelle Veränderungen bewirken soll.
Das Gesamtkonzept spannt einen Handlungsrahmen auf, formuliert die unterschiedlichen Aspekte, Anforderungen und Bedarfe und gestaltet die entsprechenden Maßnahmen transparent und nachhaltig. Dabei wurden vorhandene Expertise und Erfahrung eingebunden. Denn in Nordrhein-Westfalen gibt es zahlreiche Kulturakteurinnen und Kulturakteure, die über vielfältige Erfahrungen, sei es im Feld der Interkultur oder im Bereich Inklusion und Alter, verfügen. Hier war und ist das Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und Inklusion (kubia) ein wichtiger Partner für uns.
Das Gesamtkonzept zur Stärkung von Diversität und Teilhabe in Kunst und Kultur nimmt selbstverständlich auch Fragen des Zugangs und der Teilhabe von Älteren und Menschen mit Behinderung in den Blick und beinhaltet neue oder neujustierte Förderprogramme.
Mit dem Diversitätsfonds steht ab sofort ein im Rahmen des Gesamtkonzepts neu entwickeltes Förderprogramm zur Verfügung. Ziel des mit einer Million Euro ausgestatteten Fonds ist es, künstlerische Perspektiven zu fördern, die bisher unzureichend in der Kunst- und Kulturszene in Nordrhein-Westfalen repräsentiert sind – insbesondere im Bereich der freien Künste. Die Förderung ist spartenoffen angelegt und spricht explizit auch Erstantragstellerinnen und -antragsteller an. Es können aber auch Kultureinrichtungen oder -verbände Anträge stellen, die in Kooperation mit unterrepräsentierten Künstlerinnen und Künstlern Projekte durchführen und damit eine öffentlichkeitswirksame Plattform stellen bzw. Professionalisierung initiieren.
Ein Hemmnis bei der Durchführung inklusiver Kulturprojekte stellen oftmals die in der Regel höheren Kosten für inklusive Projekte und Angebote dar – in der Produktion ebenso wie in der Rezeption. Diese werden von den Mitteln der regulären Kulturförderung oftmals nicht abgedeckt. Das Diversitätskonzept reagiert darauf mit den neu ins Leben gerufenen „Ergänzungsmitteln Barrierefreiheit“. Diese können sowohl bei dem Diversitätsfonds als auch bei dem Förderprogramm der Regionalen Kulturförderung im Rahmen des regulären Antragsverfahrens zusätzlich beantragt werden. Die Ergänzungsmittel sollen Impulse und Anreize schaffen, Kulturangebote barrierearm zu konzipieren und umzusetzen. Sie dienen auch dazu, Erkenntnisse über Herangehensweisen und Ansätze für ein barrierefreies Kunst- und Kulturangebot zu sammeln („Best Practice“).
Das neu justierte und durch kubia mit Landesmitteln organisierte Förderprogramm „Kulturelle Bildung im Alter“ unterstützt Maßnahmen, die Kulturelle Bildung für und mit ältere(n), alte(n) und hochaltrige(n) Menschen mit und ohne Einschränkungen entwickeln und stärken. Die Maßnahmen sollen zur Teilhabe Älterer am gesellschaftlich-kulturellen Leben, zu deren Engagement in der Kultur und einem verbesserten Zugang zu Kunst und Kultur in unterschiedlichen Sparten und Formaten beitragen. Sie richten sich besonders an Personen und Gruppen, die bisher gar nicht oder wenig an Kunst und Kultur teilhaben.
Die vergangenen pandemiegeprägten Monate haben deutlich gezeigt, wie wesentlich Kunst und Kultur als gesellschaftlicher Begegnungsraum sind und es ist elementar, dass dieser Raum allen Menschen offensteht. Dafür bedarf es einer größeren Sichtbarkeit vielfältiger künstlerischer Perspektiven, einer stärkeren Öffnung von Strukturen und mitunter einer Haltungsänderung des etablierten Kulturbetriebs. Mit dem Diversitätskonzept und den angesprochenen Maßnahmen wollen wir diesen Veränderungsprozess unterstützen.
Isabel Pfeiffer-Poensgen war von 2017 bis 2022 Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.
Vera Allmanritter (2017): Interkulturelle Teilhabe. Langfassung. Institut für Kulturpolitik (IfK) der Kulturpolitischen Gesellschaft e. V. www.mkw.nrw/sites/default/files/documents/2018-10/07_allmanritter_interkulturelle_teilhabe_netz.pdf
MAGS NRW (Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen) (2020): Teilhabebericht Nordrhein-Westfalen. Bericht zur Lebenssituation von Menschen mit Beeinträchtigungen und zum Stand der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. mags.nrw/system/files/media/document/file/teilhabebericht_2020_nrw_barrierfrei.pdf