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  • Fachdiskurs

Vom anderen Stern? Qualitäten kooperativer Prozesse

von Miriam Haller

Gute Kooperationen beflügeln eine qualitätsvolle kulturgeragogische Arbeit. Oft erscheint die sektorenübergreifende Zusammenarbeit jedoch wie eine Reise zu einem anderen Stern, auf dem in einer anderen Logik gedacht, eine andere Sprache gesprochen wird, andere Gepflogenheiten, Regeln oder auch Zwänge vorherrschen. Auch unterschiedliche Vorstellungen von Qualität bestimmen die jeweilige professionelle Praxis. kubia-Mitarbeiterin Dr.in Miriam Haller fragt danach, wie Kooperationen gestaltet sein sollten, damit sich ein gemeinsames Verständnis von Qualität entwickeln kann.

Kooperationen von Kulturgeragog*innen mit Bildungs-, Pflege- und Sozialeinrichtungen sind in der Kulturellen Bildung im Alter gelebte Praxis. Es gibt zahlreiche Beispiele gelungener Kooperationen. Bisweilen hakt es aber auch gewaltig. Etablierte Drähte der Zusammenarbeit reißen ab, weil sich Zuständigkeiten geändert haben, zeitliche, personelle und finanzielle Ressourcen knapper geworden sind, Kooperationspartner*innen ihre Arbeitsstellen wechseln oder in den Ruhestand gehen.

Oft bestehen bereits lokale Netzwerke der Sozialen Altershilfe und der Pflege. Akteur*innen aus der Kulturgeragogik werden von diesen Verbünden jedoch häufig gar nicht wahrgenommen. Kulturgeragog*innen beschreiben es als gar nicht so einfach, sich in den Strukturen der Altershilfe und Pflege zurechtzufinden, erleben aber auch die Kooperation mit Kultureinrichtungen bisweilen als problematisch. Obwohl überall nach Kooperation gerufen wird, wünschen sich viele Kulturgeragog*innen von den Einrichtungen, für die sie arbeiten oder mit denen sie kooperieren, mehr Unterstützung. Die Corona-Pandemie hat ein Übriges dazu getan, dass Kooperationsveranstaltungen ausgesetzt wurden und danach der Faden nicht mehr aufgenommen werden konnte. Zusätzlich erschweren unterschiedliche Systeme der Organisation und Finanzierung die gemeinsame Arbeit.

Last but not least sehen sich Kulturgeragog*innen in Kooperationsprojekten mit unterschiedlichen Vorstellungen von Qualität konfrontiert: Die Soziale Senior*innenarbeit und Alter(n)shilfe, die Erwachsenen- und Altersbildung sowie das Pflege- und Gesundheitswesen arbeiten mit unterschiedlichen Qualitätsmodellen und deren je eigenen Begrifflichkeiten. Kooperationspartner*innen erscheinen dann wie ein anderer Stern, Galaxien weit entfernt. Der Wunsch nach Kooperation weicht dem Frust.

Operative Inseln

Die Netzwerkforschung kennt das Phänomen, in Kooperationen auf einzelnen Inseln zu sitzen, auch aus anderen Bereichen. Nicht nur Kulturgeragog*innen fühlen sich zuweilen wie auf einer einsamen Insel. Die Netzwerkwissenschaft hat erkannt, dass dieses Phänomen von strukturellen Rahmenbedingungen verursacht wird, die statt der Zusammenarbeit vereinzelte „operative Inseln“ entstehen lassen (Schubert 2008, S. 21). Sie resultieren aus Funktionsbarrieren zwischen den jeweiligen Fachbereichen in Kombination mit Hierarchiebarrieren, zum Beispiel in der Hierarchie zwischen Ratsgremien der Kommunen, den Abteilungen der Verwaltung und schließlich den operativen Einrichtungen im Stadtteil (vgl. ebd.).

Die Grafik zeigt drei Dreiecke. Zwischen dem 1. und dem 2. steht ein Pluszeichen, zwischen dem 3. und dem 4. ein Gleichheitszeichen. Das 1. Dreieck ist in Längsrichtung in vier Teile geteilt, das 2. horozontal und das dritte sowol längs als auch horizontal, so dass sich eine Unterteilung in 16 Teilstücke ergibt.

Operative Inseln (nach Schubert 2008, S. 21)

Der Netzwerkforscher Herbert Schubert kommt zu dem Schluss, dass die Qualitätsentwicklung von Diensten und Einrichtungen der kommunalen Daseinsvorsorge in den Sozialräumen der Bewohner*innen entscheidend davon abhängt, „ob diese Barrieren überwunden werden und der Bedarf über eine integrierte Vorgehensweise der professionellen Akteure (nach dem Prinzip der ‚Kundenorientierung‘ als Ausrichtung an den Bedürfnissen der Adressaten) erfüllt wird“ (ebd., S. 22).

Relationale Handlungsfähigkeit

Die Bildungswissenschaftlerin Anika Duveneck (2016) hat in ihrer Studie die Entstehung solcher „operativen Inseln“ als Problem auch von sektorübergreifenden Kooperationen von Kultureller Bildung, Schule und Jugendhilfe identifiziert. Mit dem „PerspektivWechsel“ haben Anika Duveneck, Karina Schlingensiepen-Trint und Stefanie Schmachtel (2021) auf der Basis ihrer Erfahrungen aus dem Projekt „Bildungslandschaften NRW“ eine praxiserprobte Methode für multiperspektivische Zusammenarbeit im Bildungsbereich entwickelt. Dieser Ansatz ist auch für Kooperationen von Sozialer Altenarbeit, Pflege, Kultur- und Bildungseinrichtungen und Kultureller Altersbildung interessant.

Ziel der Perspektivwechsel-Methode ist es, stereotype Bilder von der Arbeit der Akteur*innen im jeweils anderen Bereich zu überwinden. Die Studien von Duveneck zeigen: Die Zusammenarbeit gelingt, wenn die unterschiedlichen Akteur*innen ihre jeweiligen Perspektiven, ihre Expertise, ihr Wissen und Können in die Entwicklung und Durchführung des Angebots einbringen. Sie sollten die Qualitäten, Kompetenzen und Potenziale der einzelnen Disziplinen im gemeinsamen Tun mit einander verbinden können. Das erfordert von den beteiligten Akteur*innen die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und zur Entwicklung von relationaler Handlungsfähigkeit (vgl. Edwards 2009). Dafür ist zunächst einmal ein grundlegendes Wissen der Akteur*innen über alle beteiligten Bereiche wichtig.

Durch die Perspektivwechsel-Methode, in der sich die Kooperationsakteur*innen im Rollenspiel jeweils in die Position des anderen versetzen, können Vorannahmen abgebaut werden, die den Kontakt und eine offene Anerkennung der jeweils anderen Fachlichkeit erschweren. Denn dieses grundlegende Wissen sei die Voraussetzung, um zu verstehen, „was den anderen in der Zusammenarbeit aufgrund ihrer Fachlichkeit und ihren Arbeitsstrukturen wichtig ist und welche Ressourcen sie mitbringen (und welche auch nicht)“ (Duveneck et al. 2021, S. 7). Dazu müssen die Beteiligten zunächst einmal den Blick auf die besonderen Qualitäten der eigenen Profession schärfen, damit sie anderen vermitteln können, was sie insbesondere von der Zusammenarbeit erwarten, welche Vorstellungen von Bildung und Qualität ihre professionelle Arbeit leiten und welchen Beitrag sie in die Kooperation einbringen können und welchen nicht (vgl. ebd.).

kubia-Qualitätsstern

Zentral für gelingende Kooperationen von Kulturgeragog*innen mit anderen Sektoren ist es deshalb, das eigene – häufig implizite und inkorporierte – Wissen (vgl. Hartmann/Hübner 2024) von den besonderen Qualitäten kulturgeragogischer Bildungsangebote zu reflektieren und auch erläutern zu können. Nur so kann es im Sinne eines relationalen Qualitätsverständnisses in sektorübergreifende Verständigungsprozesse über die Qualität eines kooperativen Angebots für ältere Menschen eingebracht werden.

Ein bunter Stern mit 12 Strahlen und einem weißen Zentrum. Im Zentrum steht „Kulturelle Bildung im Alter ist ...“. Die Strahlen sind im Uhrzeigersinn auf 12 Uhr beginnend beschriftet mit: „partizipativ, reflexiv, barrierearm, diversitätssensibel, ganzheitlich, prozessorientiert, interaktiv, innovativ, sichtbar, nachhaltig, kooperativ, qualifiziert“.

kubia-Qualitätsstern für Kulturelle Bildung im Alter

© Jeanette Corneille

Um diesen Selbstreflexionsprozess in der Profession der Kulturgeragogik anzuregen, hat kubia einen Qualitätsstern für Kulturelle Bildung im Alter entwickelt. Er dient als Ausgangspunkt, von dem aus die besonderen Qualitäten kultureller Altersbildung gemeinsam partizipativ weiterentwickelt werden (vgl. Haller 2023). Dazu wurden im Rahmen der Weiterbildungsangebote von kubia zwei Online-Workshops veranstaltet, in denen die Dimensionen kulturgeragogischer Qualität diskutiert wurden. Mithilfe der erlebensbezogenen Methode des „Thinking at the Edge“ (TAE) (vgl. Gendlin/ Hendricks 2004; Deloch 2018) versuchten wir dort, auch dem impliziten Wissen über die besonderen Qualitäten Kultureller Bildung im Alter auf die Spur zu kommen und in die partizipative Konzeptentwicklung einzubringen.

Sich vertraut machen

Bei der Entwicklung des kubia-Qualitätssterns habe ich mich immer mal wieder an den wahrscheinlich bekanntesten Sternenreisenden der Weltliteratur erinnert: den kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry (1943/2015). Der kleine Prinz hat auf seinen Reisen zu anderen Planeten gelernt, dass er nur diejenigen Menschen und Dinge versteht, mit denen er sich vertraut gemacht hat. Dazu braucht es Zeit und viel Geduld. Für ein Miteinander bedarf es der Offenheit gegenüber dem anderen und der Bereitschaft, Fremdartigkeit zuzulassen. Es braucht die Fähigkeit, die eigene Perspektive zu reflektieren und verständlich machen zu können und die Perspektive anderer einnehmen zu können.

Dafür benötigen wir Möglichkeitsräume, die genügend Freiraum schaffen, und „Transferakteur*innen oder liminale Akteur*innen“ (Hartmann/Hübner 2024): Grenzgänger*innen, die sich auf die Reise machen und Freude am Übersetzen haben. Der kleine Prinz ist ein solcher Grenzgänger und eigentlich ein Kulturgeragoge: Er bringt den Piloten dazu, wieder zu zeichnen, und hat sofort verstanden, dass aus Sicht des Piloten sein Bild keinen Hut darstellt, sondern einen Elefanten im Bauch einer Riesenschlange.

Heinke Deloch (2018): Vom impliziten Wissen zum gemeinsamen Konzept. Ideen im Team entwickeln – mit Elementen des Thinking at the Edge. In: Gesprächs-psychotherapie und Personzentrierte Beratung 1, S. 6–11.

Anika Duveneck (2016): Bildungslandschaften verstehen. Weinheim: Belz-Juventa.

Anika Duveneck/Karina Schlingensiepen-Trint/Stefanie Schmachtel (2021): PerspektivWechsel. Methode für multiperspektivische Zusammenarbeit im Bildungsbereich. Düsseldorf: Landesjugendring NRW.

Anne Edwards (2009): Relational Agency in Collaborations for the Wellbeing of Children and Young People. In: Journal for Children‘s Services 4 (1), S. 33–43.

Eugene T. Gendlin/M. Hendricks (2004): Thinking at the Edge (TAE) Steps. The Folio. In: A Journal for Focusing and Experiential Therapy 19 (1), S. 12–24.

Miriam Haller (2023): Wann sagst du „Wow“? Qualitäten Kultureller Bildung im Alter. In: Kulturräume+. Das kubia-Magazin 25, S. 7–11.

Anne Hartmann/Kerstin Hübner (2024): Wissen in Bewegung – Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung gemeinsam gestalten. In: Wissensplattform Kulturelle Bildung Online.

Antoine de Saint-Exupéry (1943/2015): Der Kleine Prinz. München: dtv.

Herbert Schubert (2008): Netzwerkkooperation – Organisation und Koordination von professionellen Vernetzungen. In: Ders. (Hrsg.): Netzwerkmanagement. Wiesbaden: VS, S. 7-105. www.doi.org/10.1007/978-3-531-91011-6_1

Erschienen in:

Das Cover der Kulturräume Nr. 27 zeigt eine Frau, die mit ihrer Jacke an dem Pfahl eines Verkehrsschildes verbunden ist. Neben ihr ist eine ältere Passantin zu sehen. Das Foto stammt aus der Performance „Dressing the City und mein Kopf ist ein Hemd #2“ von Angie Hiesl + Roland Kaiser.
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