Ziel des kubia-Qualitätssterns ist es, die Qualitätsdimensionen der Fachdisziplin Kulturgeragogik sichtbar zu machen und diese ins Bewusstsein von Kunst- und Kulturschaffenden zu rücken sowie von all jenen, die sich in den Bereichen Bildung, Soziales, Gesundheit und Pflege mit kulturellen Angeboten für ältere Menschen befassen. Denn Personen, die in Altenhilfe und Pflege arbeiten, haben mitunter ein anderes Qualitätsverständnis von Bildungsangeboten im Alter als Personen, die in den Bereichen Kulturelle Bildung und Künste tätig sind. Wenn in Kooperationen unterschiedliche Qualitätsverständnisse aufeinandertreffen, kann der Qualitätsstern als Medium der Verständigung dienen.
Ziele der Kulturgeragogik
Zentrales Ziel der Kulturgeragogik ist es, allen älteren Menschen die Möglichkeit zu bieten, ästhetische Erfahrungen zu machen, diese zu reflektieren und zu lernen, sich selbst künstlerisch-kreativ auszudrücken. Kulturelle Bildung im Alter befähigt zur aktiven Rezeption von Kunst und Kultur. Kulturelle Bildung meint, im Medium der Künste über sich selbst und die Welt nachdenken zu können und andere Perspektiven auf sich und die Welt zu bekommen. Kulturgeragogische Angebote sind Teil der Allgemeinbildung über die Lebensspanne hinweg. Sie regen durch ästhetische Erfahrungen transformatorische Bildungsprozesse und die Persönlichkeitsentwicklung im Alter an. Sie ermöglichen Partizipation, ermutigen zu Selbstwirksamkeit und dazu, eigene Grenzen zu erweitern, Perspektiven zu wechseln und das eigene Potenzial zu entfalten (vgl. de Groote 2010, Haller 2023b). Dabei ist die Kulturelle Bildung im Alter werteorientiert und leitet sich von den gesetzlichen Rahmungen zur kulturellen Teilhabe ab (vgl. Fricke/Haller 2023).
Praxistest
Im Sinne einer partizipativen Qualitätsentwicklung stellte kubia den Stern auf mehreren Fachtagungen sowie in zwei Online-Workshops zur Diskussion, um ihn zu überprüfen und gemeinsam mit Expert*innen aus der Praxis weiterzuentwickeln. In den Workshops und im anschließenden kollektiven Schreibprozess nutzten wir Elemente der phänomenologischen Methode „Thinking at the Edge“ (Gendlin 2004), um auch dem impliziten, verkörperten Wissen der Praktiker*innen nachzuspüren und nach stimmigen Worten zu suchen, um diese wichtige Wissensform zum Ausdruck zu bringen.
Der Blick aus der Praxis hat einigen Strahlen eine andere Färbung und Ausrichtung gegeben. Außerdem wurde in die Mitte des Strahlenkranzes – als zentrale Qualität aller kulturgeragogischen Angebote – die wertschätzende Grundhaltung der Angebotsleitenden hinzugefügt. Herausgekommen ist ein Qualitätsstern für kulturgeragogische Angebote, den wir als „Leuchtende-Augen-Index“ (Rosa/Endres 2016) verstehen: Was bringt die Augen der Teilnehmenden kulturgeragogischer Angebote zum Leuchten?
Wertschätzende Grundhaltung im Zentrum
„Nur in den Augen werden die Strahlen zu Licht“ – dieser Aphorismus von Arthur Feldmann drückt die wertschätzende Grundhaltung der Leitenden von kulturgeragogischen Angeboten aus, die hinter dem Qualitätsstern steht: Sie bringt die Qualitätsstrahlen des Sterns erst zum Leuchten. Eine wertschätzende Haltung achtet die Würde jedes einzelnen Menschen. Sie ist ist freundlich, zugewandt, feinfühlig und validierend. „Validierend“ bedeutet: Sie greift den emotionalen Gehalt von Aussagen oder Verhaltensweisen der Teilnehmenden auf und erkennt diese als für sie richtig und gültig (valide) an. Basierend auf gewaltfreier Kommunikation wird jede ausgedrückte individuelle Erfahrung als bedeutsam gesehen und in der Gruppe wertgeschätzt. Eine wertschätzende Haltung beinhaltet die Fähigkeit, sich in das Erleben der Beteiligten einzufühlen, in Resonanz zu treten und sich berühren zu lassen. Sie würdigt die Lebensleistungen, Erfahrungen, Qualifikationen und reichen Biografien der Teilnehmenden.
Qualitätsvolle kulturgeragogische Angebote sind …
1) … partizipativ und orientieren sich an den Teilnehmenden
Am Anfang aller Qualitätsfragen stehen die Teilnehmenden, ihre kulturellen Interessen und Bedürfnisse sowie Partizipationsmöglichkeiten. Kulturelle Bildungsangebote im Alter orientieren sich an den Teilnehmenden, an ihrer Lebenswelt, ihrem Alltag, ihrer Biografie, ihren Erfahrungen, Vorlieben und Ressourcen (vgl. de Groote 2010, S. 19). Es geht um die kulturelle Teilhabe und Teilgabe älterer Menschen, die Anregung von ästhetischen Bildungsprozessen und die Ermöglichung von (mehr) kultureller Partizipation (vgl. Fricke/Haller 2023). Dazu arbeiten die Angebotsleitenden mit partizipativen Methoden der Kulturgeragogik.
2) … alter(n)sfreundlich
Qualitätsvollen kulturgeragogischen Angeboten liegt ein differenziertes Verständnis vom Alter, vom Älterwerden und von Generationenbeziehungen zugrunde. Kulturgeragog*innen hinterfragen immer wieder aufs Neue ihre eigenen Alter(n)sbilder, die eigenen Voreingenommenheiten und deren Auswirkungen. Sie regen auch die Beteiligten zur kritischen Reflexion stereotyper Bilder vom Alter(n) und von anderen Generationen an.
Kulturgeragog*innen haben ein wissenschaftlich fundiertes und reflektiertes Verständnis von der Diversität der Gruppe älterer Menschen, der Bandbreite unterschiedlicher Lebenslagen im Alter, von biografischen Übergängen im Alter und von unterschiedlichen Generationenkonstruktionen. Sie stellen sich gegen Ageismus und Ableismus. Sie ermutigen zur Freiheit in der Gestaltung der eigenen Biografie. Ein spielerischer Umgang mit Alters- und Generationenrollen und eine bewusste Selbstpositionierung werden angeregt.
3) … inklusiv und vermeidet Barrieren
Eine wesentliche Qualität kulturgeragogischer Angebote ist ihre Barrierefreiheit. Auch wenn vollständige Barrierefreiheit für alle kaum zu erreichen ist, wird die größtmögliche Barrierefreiheit für die jeweiligen Adressat*innen angestrebt. Das betrifft die Auswahl der Orte und Räume, deren Erreichbarkeit und Ausstattung, die Sprache, die eingesetzte Technik, die Didaktik und Methodik. Kulturgeragogische Angebote beinhalten eine altersgerechte Infrastruktur und Zeitabläufe, die an den Bedürfnissen der Teilnehmenden orientiert sind. Auf diese Weise schaffen sie inklusive, anregende Umwelten und öffnen Räume für ästhetische Erfahrungen und kreativ-künstlerischen Ausdruck.
Das kubia-Vorgehensmodell (Ziegert 2023) kann bei der systematischen Planung und Umsetzung von Barrierefreiheit unterstützen.
4) … diversitätssensibel
Kulturgeragogische Angebote berücksichtigen in ihrer Didaktik neben Alter und Behinderung auch andere Diversitätsdimensionen wie Geschlecht, Bildungshintergrund sowie ethnische und soziale Herkunft. Kulturgeragog*innen achten bei der Konzeption des Angebots auf eine Didaktik, die gleichberechtigt das je spezifische Wissen und die Kompetenzen aller Beteiligten zusammenbringt. Für Personen, die bisher in ihrem Leben wenig an Kunst und Kultur teilhaben konnten, ermöglichen sie späte Bildungsgerechtigkeit. Bei der Durchführung des Angebots gehen Kulturgeragog*innen auch mit möglichen Ambivalenzen gegenüber Diversität innerhalb der Gruppe der Beteiligten um.
5) … ganzheitlich
Kulturelle Bildungsangebote im Alter verbinden emotional-affektive, kognitiv-intellektuelle, sozial-kulturelle und gestalterische Handlungsprozesse und Kompetenzen in einem ganzheitlichen Ansatz, der Leiblichkeit, Kognition und Sinnlichkeit ästhetischen Lernens gleichberechtigt ins Zentrum stellt.
Die Angebotsleitenden schaffen eine offene Atmosphäre, in der sich die Einzelnen wohl und sicher fühlen, um ihre Gefühle und Gedanken auszudrücken und mit anderen zu teilen. Kulturgeragogische Angebote können auch Möglichkeiten bieten, Spiritualität zu erfahren – wie das Erleben von Verbundenheit, Trost und Hoffnung.
6) … prozessorientiert
Kulturelle Bildung im Alter gibt prozessorientiert die Möglichkeit zum kreativ-künstlerischen Ausdruck. Sie fördert mit vielfältigen Methoden und Formaten das eigene schöpferische Tun der Teilnehmenden und eröffnet ihnen eigene Wege zur Umsetzung. Sie bietet, je nach Anlage des Projekts und den Wünschen der Teilnehmenden, adäquate Lernformen und Präsentationsmöglichkeiten.
7) … interaktiv und regen Engagement und Generationendialoge an
Kulturgeragogische Angebote sind interaktiv. Sie ermöglichen sozialen Kontakt, fördern Engagement, kooperatives Arbeiten und aktiven Austausch über Ideen der Teilnehmenden untereinander und mit den Angebotsleitenden. Die Künste als Kommunikationsmittel einzusetzen, bietet Raum für Resonanzerfahrungen in der Gemeinschaft. Der Dialog zwischen den Generationen wird angeregt. Dabei wird sensibel mit Generationenunterscheidungen und Generationenambivalenzen umgegangen.
8) … kreativ-künstlerisch
Kulturelle Bildungsangebote achten auf ästhetisch-künstlerische Qualität. Sie schaffen kreativ-künstlerische, sinnliche und spielerische Erfahrungs- und Begegnungsräume. Sie regen an, aktuelle, historische und biografische Themen im Medium der Künste zu reflektieren. Durch das kreativ-künstlerische Tun können sich neue Perspektiven und Spielräume eröffnen. Das kann zu einem veränderten Blick der Teilnehmenden auf sich selbst und ihre Umwelt führen.
9) … sichtbar
Kulturgeragogische Angebote werden durch eine Öffentlichkeitsarbeit begleitet, welche die Adressat*innen adäquat und altersfreundlich anspricht (vgl. Brammertz 2024). Diese Öffentlichkeitsarbeit macht die Potenziale und Ideen der Beteiligten sichtbar und zeigt Wege zur Selbstermächtigung und Selbstwirksamkeit der Beteiligten auf. Die Angebotsleitenden schaffen angemessene Präsentationsmöglichkeiten für die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit und erhöhen so die Sichtbarkeit von älteren Menschen in der Gesellschaft. Regionale Kooperationspartner und Förderer steigern die Sichtbarkeit kulturgeragogischer Angebote vor Ort. Eine rege Berichterstattung in den Medien fördert zusätzlich das Bewusstsein für die Bedeutung sozialer und kultureller Teilhabe im Alter.
10) … kooperativ
Kulturgeragogische Angebote sind kooperativ, vernetzt und sozialraumorientiert (vgl. Haller 2024). Sie bilden Kooperationen von Bildungs-, Sozial-, Pflege- und Kultureinrichtungen, die jeweils ihre Expertise in die Entwicklung und Durchführung des Angebots einbringen. Die Kooperation zwischen den unterschiedlichen Trägern und Einrichtungen beruht auf einem fachlichen Miteinander, das die spezifischen Qualitäten, Kompetenzen und Potenziale der einzelnen Bereiche anerkennt und miteinander verbindet. Kulturgeragog*innen kooperieren in ihren Angeboten mit Menschen, die sich freiwillig im Kulturbereich engagieren. Sie schaffen ein tragfähiges Netzwerk mit Partnern und Förderern, mit dem Ziel, die Angebote langfristig finanziell zu sichern und zu verstetigen.
11) … nachhaltig
Kulturgeragogische Angebote zielen auf Nachhaltigkeit im Sinne der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals) ab. Die Frage, was die Kulturgeragogik zu notwendigen gesellschaftlichen Transformationsprozessen beitragen kann, erschöpft sich dabei nicht in der Wahl eines künstlerischen Themas wie ‚Wasser‘ oder ‚Klimawandel‘, sondern betont die Verantwortung aller Generationen füreinander und für diese Welt. Intergenerationelle kulturgeragogische Angebote fördern das Miteinander der Generationen in der gemeinsamen Sorge um die planetare Zukunft (vgl. Reinwand-Weiss 2023).
12) … qualifiziert und professionell geleitet
Die Angebotsleitenden sind künstlerisch, kulturpädagogisch und/oder geragogisch qualifiziert, haben kulturgeragogische und gerontologische Kenntnisse und bilden sich kontinuierlich weiter. Die kooperative Zusammenarbeit von Kunstschaffenden, Kunstvermittler*innen, Kulturgeragog*innen und weiteren Berufsgruppen der sozialen Alter(n)sarbeit fördert den Aufbau von kulturgeragogischen Kompetenzen.
Die Angebotsleitenden setzen partizipative und öffnende Methoden ein und entwickeln gemeinsam partizipative Evaluationsmethoden. Sie formulieren und reflektieren Qualitätsstandards. Die Angebotsleitenden dokumentieren und sichern Qualität und bringen ihre Erfahrungen in Fachdiskussion und kollegialen Austausch ein. Sie reflektieren ihre Didaktik und Methodik und entwickeln immer im Blick auf die Teilnehmenden neue kreativ-künstlerische Lehr- und Lernmethoden.
Die Angebotsleitenden planen ihre Angebote zuverlässig und ihre Ausgabenplanung ist transparent. Sie setzen sich dafür ein, dass es für qualifizierte kulturgeragogische Arbeit eine angemessene Vergütung und Fördermöglichkeiten braucht.
Leitstern
Der Qualitätsstern dient als Leitstern, um die Ziele der Kulturgeragogik immer im Blick zu behalten. Möge er hell genug strahlen, um Orientierung zu geben und Kulturgeragog*innen zu motivieren, das Feld der Kulturgeragogik noch sichtbarer werden zu lassen.