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  • Fachdiskurs

Auch alte Hunde können neue Kunststücke erlernen – Eine Standortbestimmung zur Kulturgeragogik

von Hans Hermann Wickel

"The older the fiddler, the sweeter the tune“. Aus diesem Bonmot lässt sich herauslesen, was kulturelle Aktivität im Alter ausmacht: Sie knüpft an die lange Lebenserfahrung mit Kultur an, die ein alter Mensch quasi zwangsläufig erworben hat. Die so wichtige positive Sicht vom Alter mit seinen vielfältigen st das Arbeitsfeld einer neuen Disziplin, der Kulturgeragogik.

Im Alter aktiv oder wieder aktiv und kreativ Kultur auszuüben und auch Kompetenzen neu zu erwerben, ist eine Möglichkeit aktiver Gestaltung der Lebensphase Alter, wie es der Blogeintrag eines älteren britischen Hobbymusikers anschaulich schildert: “Yes, old dogs can still learn new tricks. I’m 69 and picked up the fiddle four years ago. I´m doing quite well. Retired with lots of practice time. Play with a session group in pubs… a couple nights a week. Have a good ear for music so pick it up pretty fast. The only finger-problem I have is trying to do cuts with the pinky!! It doesn’t want to go there! Good luck!”

Auch alte Hunde können neue Kunststücke erlernen: Lernen im Alter, sogar die Aneignung hoch komplexer kultureller Techniken, wie es das Geigenspiel darstellt, ist selbstverständlich weiterhin möglich, und kann in einer, wie hier dargestellt, sehr zupackenden, autonomen und selbstbewussten, dabei aber doch irgendwie lockeren Weise geschehen, ohne dass altersbedingte Schwierigkeiten verschwiegen werden müssen.

Dieses Beispiel Kultureller Bildung aus dem dritten Lebensalter liegt dabei ebenso auf der Palette kultureller Möglichkeiten im Alter wie z. B. ein äußerst niedrigschwelliges künstlerisches Angebot im vierten Lebensalter, das aufsuchend und viel intensiver mögliche Beeinträchtigungen berücksichtigen muss wie bei demenziellen Veränderungen.

Was ist Kulturgeragogik?

Wie wurde aus den vielen kulturellen Angeboten, die es sicher schon lange in vielfältiger künstlerischer Form auch für Ältere gibt, eine „Kulturgeragogik“, die sich diesbezüglich um didaktische und methodische Fragen kümmert? Am 4. Mai 2011 lief folgende Nachricht über den Ticker der Deutschen Welle: „Mit einer Wortneuschöpfung geht im Mai ein Weiterbildungsprojekt an den Start, das auf den demografischen Wandel reagiert: ‚Kulturgeragogik‘ soll die künstlerische Arbeit mit Senioren professionalisieren“.

Kulturgeragogik – in Analogie zur Kulturpädagogik, aber eben auf die Bedürfnisse des alten Menschen ausgerichtet (pais = der Knabe, geron = der Greis) – kombiniert Erkenntnisse aus der Gerontologie und der Alternsbildung (Geragogik) mit kulturpädagogischen Methoden. Sie ist die folgerichtige Antwort auf selbstverständliche Bedürfnisse, die ganz breit in unserer Gesellschaft vorhanden sind, denn kulturelle Aktivitäten und kulturelle Bildung sind für Ältere ein wichtiger, ja nahezu zentraler Schlüssel zu sozialer Teilhabe, zu Lebensqualität und Zufriedenheit, zu sinnerfüllter Zeit und damit zu einem erfolgreichen Altern. Wie diese Bedürfnisse ernst genommen und dann passend und qualitativ hochwertig im Inhalt wie in der Struktur in Angeboten aufbereitet werden können, versucht die Kulturgeragogik nicht nur zu beantworten, sondern auch in die Tat umzusetzen. Seit Mai 2011 wird eine gleichnamige Weiterbildung in einer Zusammenarbeit der FH Münster mit dem Remscheider Institut für Bildung und Kultur durchgeführt.

Beide Initiatoren beschäftigen sich schon seit vielen Jahren mit dem Thema der Kulturellen Bildung im Alter. Die FH Münster bietet seit 2004 eine – anfangs eher skeptisch beäugte, aber seitdem stets ausgebuchte – zertifizierte Weiterbildung „Musikgeragogik“ an, mittlerweile mit Ablegern in Rendsburg, Berlin und in Kürze in Bayern. Sie basiert auf der Überzeugung, dass Musik einerseits ein kulturelles Grundnahrungsmittel ist, das barrierefrei auch älteren Menschen in aktiver Auseinandersetzung oder auch rezeptiv als ein Teil von Bildung zweckfrei und quasi bis ans Lebensende zur Verfügung gestellt werden muss. Andererseits stellt Musik ein hervorragendes Medium der Kommunikation, des Ausdrucks und der körperlichen wie seelischen Bewegung dar, das wie kaum ein anderes künstlerisches Medium emotional tiefe Schichten anrührt und so das Alter und Altern wesentlich bereichern oder auf vielfältige Weise auch erleichtern kann.

Auch das Remscheider Institut für Bildung und Kultur beschäftigt sich seit langem mit dem Thema „Kulturelle Bildung im Alter“. Seniorenkulturarbeit war in dort bereits in den 1980er Jahren ein Thema. Mit der Gründung des „Kompetenzzentrums für Kultur und Bildung im Alter“ (kurz: kubia) wurde ein Fachforum eingerichtet für alle, die Kultur und Bildung von und für ältere Menschen ermöglichen und fördern. Seit 2005 wird zudem von Remscheid aus das europäische Netzwerk für Kultur und Alter (age-culture.net) gesteuert, das ein Forum bietet für Kulturschaffende, Produzent*innen, Institutionen und Kulturvermittler*innen aus ganz Europa.

Wo steht die Kulturgeragogik heute?

Das intensive Aufeinanderprallen von Alter und Kunst scheint völlig neue Ansätze, Möglichkeiten und Ideen freizusetzen. Das Thema liegt sozusagen in der Luft. Vielerorts werden allerdings die Erfahrungen immer wieder von Neuem gemacht. Das könnte man sich sparen, wenn man gewisse geragogische Standards von Anfang an mit einbeziehen würde: Diese müssen allerdings erst mal vermittelt werden. Um kulturgeragogische Aus- und Weiterbildung auf Hochschulniveau gar hat man sich bis auf Ausnahmen erst sehr wenig Gedanken gemacht, obwohl jeder sofort die Notwendigkeit erkennt, wenn das Thema angesprochen wird.

Das Ziel ist, eine Weiterbildungsmöglichkeit zu schaffen für ein flächendeckendes, barrierefreies und passendes sowie qualitativ hochwertiges Angebot für die verschiedenen kulturellen Bedürfnisse und Ansprüche älterer Menschen in ihren jeweiligen Lebenslagen, und die sind, wie wir ja wissen, äußerst heterogen! Barrierefrei meint einen problemlosen physischen, kommunikativen, sozialen, kulturellen und, man könnte ergänzen: auch bezahlbaren Zugang. Qualität meint hier auf keinen Fall den oberen Bereich einer genormten künstlerischen Werteskala – wer sollte denn die Skala auch schon eichen. Erreicht werden soll in der Weiterbildung eine bestmögliche didaktische Aufbereitung für jedes erforderliche Niveau und Bedürfnis und einen optimal zugeschnittenen Erfahrungsraum, und das im Feld tausendfacher Möglichkeiten – vom Rap über Streetart bis zu Museumsbesuchen von Menschen mit Demenz, vom Seniorenchor bis zum Gruppensingen im Altenheim, vom Geigenunterricht bis zum Fotografieseminar, vom digitalen Geschichtenerzählen bis zur Demenz-Kunst im offenen Malatelier.

Wir müssen also immer darauf achten: Unterschiedliche kulturelle Zugänge dürfen hier nicht durch eine von außen kommende Deklarierung von Hoch- und Subkultur gegeneinander ausgespielt werden. In der Musik z. B. kann klassische Musik für den einen die gleiche Bedeutung einnehmen wie der Schlager für den anderen. Der eine liebt Beethoven, der andere Heino. Zudem müssen wir Hemmungen und Ängste aufspüren und ihnen entgegenwirken. Sie entstehen, weil sehr viele ältere Menschen davon ausgehen, sie seien für kulturelle Betätigungen überhaupt nicht begabt genug. Ganz im Gegenteil: Wer etwas bei diesen Aktivitäten erlebt, wer dabei emotional berührt wird und Sinn empfindet, ist auch begabt – und somit eigentlich jeder, auch der hochaltrige, bettlägerige, multimorbide Mensch!

Offene Fragen

Zur Bewältigung all dieser Aufgaben bedarf es einer umfassenden Ausbildung von Kulturgeragog*innen, die die aktuellen gerontologischen Erkenntnisse in ihren künstlerisch-kulturellen Angeboten methodisch klug umsetzen und sowohl in Komm- als auch in aufsuchenden Strukturen verankern und dabei den generationsübergreifenden Aspekt sowie natürlich auch kultursensible Perspektiven einfühlsam mit berücksichtigen. So finden sich im Curriculum der einjährigen Weiterbildung neben den Modulen, in denen gerontologisches, alterspsychologisches, geragogisches und kulturmanageriales Basiswissen vermittelt wird, eine Vielzahl von praktischen Einheiten, die Einblicke in altersspezifische Methoden der verschiedenen Kunstsparten und die unterschiedlichen Zugänge geben.

Natürlich bleiben noch eine Menge Fragen unbeantwortet, denn wir stehen noch ganz am Anfang. Völlig unklar ist die finanzielle Seite: Können Kulturgeragogen überhaupt bezahlt werden, und von wem? Kaufkraft ist ja statistisch bei den älteren Menschen durchaus vorhanden, auch wenn das Geld natürlich sehr ungleich verteilt ist und Altersarmut wieder zunehmend zu einem Problem wird.

Weiterhin stellt sich die Frage nach dem beruflichen Feld: Sollte man kulturgeragogische Aufgaben nur als Teilgebiete bereits bestehender Berufe ansehen – künstlerischer, pflegender, sozialer, gesundheitlicher, bildungsbezogener Arbeitsfelder – oder einen Schritt weitergehen hin zu einem eigenständigen Berufsfeld? Entstehen daraus berufliche Konkurrenzsituationen, wer ist qualifizierter: Ein*e Künstler*in oder Kunstgeragog*in oder Kunsttherapeut*in? Um hierauf Antworten zu finden und künftig kulturgeragogische Arbeit nachhaltig in den Strukturen von Alten- und Kulturarbeit integrieren zu können, bedarf es eines interdisziplinären Diskurses zwischen Wissenschaft und Praxis, neuer Allianzen zwischen sozialen Einrichtungen und Kulturanbietern und natürlich vor allem Rückendeckung und Unterstützung von Seiten der Politik.

Ganz entscheidend ist, dass kulturelle Aktivitäten in unserer Gesellschaft ihren Eigenwert behalten und nicht über Transferleistungen legitimiert werden müssen – nach dem Motto: mit Musik bleibt die Intelligenz oder Gesundheit länger erhalten. Aber natürlich geht es auch um die Verbesserung von Lebensqualität und Lebenszufriedenheit, von Sinnfindung bzw. -erhaltung durch kulturelle Selbstständigkeit und Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeit. Körperliche und seelische Beeinträchtigungen im Alter können zudem durch kulturelle Teilhabe abgemildert, aufgefangen werden, nonverbale Kulturtechniken und Künste können mögliche sprachliche Defizite als Medien der Kommunikation und des Ausdrucks ergänzen oder gar ersetzen und einen wesentlichen Beitrag zur Pflege der Seele leisten, die ja im Inventar der pflegerischen Leistungen deutlich zu kurz kommt. Insofern reicht das System der Kulturgeragogik auch in Felder der Gesundheit hinein, in die Bereiche Prophylaxe und Prävention oder auch der Wahrung von Identität. Kulturelle Teilhabe im Alter ist somit ein Plus für viele gesellschaftliche Bereiche: für Kultureinrichtungen und Kulturschaffende, für den Gesundheitssektor, den Bildungsbereich und unser Gemeinwesen.

Cover der Kulturräume+ 1/2011. Foto von Bettina Flitner. Ältere Dame in einem weißen Malerkittel mit Farbflecken und Pinseln in der Hand
  • Magazin
  • 2011

Kulturgeragogik – Lebenskunst im Alter

Sich kreative Räume im Alter zu erschließen, die unseren Geist wach halten und Anregungen geben, ist für viele ältere Menschen wichtiger Bestandteil einer sinnerfüllten Gestaltung des eigenen Älterwerdens und bedeutet einen Zugewinn an Lebensqualität. Wie diese Räume ausschauen und gestaltet werden können und was unbedingt hineingehört, ist Inhalt des neuen kubia-Magazins.

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Eine Party für alle – Das kubia-Vorgehensmodell zur strukturierten Analyse, Planung und Umsetzung von Barrierefreiheit in Kunst und Kultur

Das Vorgehensmodell ist ein pragmatisches Instrument, um Barrierefreiheit angesichts der Vielzahl der Bedarfe und begrenzter Ressourcen im Kulturbetrieb strukturiert angehen, organisieren und steuern zu können.

Ein bunter Stern mit 12 Strahlen und einem weißen Zentrum. Im Zentrum steht „Kulturelle Bildung im Alter ist ...“. Die Strahlen sind im Uhrzeigersinn auf 12 Uhr beginnend beschriftet mit: „partizipativ, reflexiv, barrierearm, diversitätssensibel, ganzheitlich, prozessorientiert, interaktiv, innovativ, sichtbar, nachhaltig, kooperativ, qualifiziert“.
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Kreatives Altern, Gesundheit und Wohlbefinden – Strategien aus Großbritannien

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