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  • Fachdiskurs

Kunst, Ästhetik, Kulturpolitik und Behinderung – Der internationale Kreativfall Inklusion

von Ben Evans

Ben Evans ist Leiter der Abteilung „Arts & Disability, European Union Region“ beim British Council und hat tagtäglich mit Projekten zu tun, an denen einige von Europas besten und innovativsten Künstler*innen mit Behinderung beteiligt sind.

Ich habe das Glück, bei einer Organisation beschäftigt zu sein – das British Council –, das einen stolzen Rekord in der Förderung von Künstler*innen mit Behinderung hält. Das British Council ist Großbritanniens Auslandsorganisation zur Förderung von Bildung und Kultur. Wir nutzen die Künste zur Völkerverständigung, denn wir sind überzeugt, dass Kunst und Kultur die besten Einblicke in andere Kulturen eröffnen. Seit vielen Jahren fördert das British Council die internationalen Karrieren herausragender Künstler*innen mit Behinderung im Rahmen der „art form“ Projekte. In unserem biennalen „British Council Edinburgh Showcase“ für Tanz und Theater haben wir kürzlich Programmplaner*innen aus der ganzen Welt insgesamt 30 Produktionen präsentiert, davon stammten fünf von Künstler*innen mit Behinderung. Diese wurden nicht aufgrund irgendeiner politischen Agenda ausgewählt, sondern ihre Qualität und Innovationskraft sicherten ihnen einen Platz unter den besten Arbeiten in diesem konkurrenzstarken Feld.

Wir fördern diese Arbeit, weil Großbritannien in der glücklichen Lage ist, über eine sehr dynamische Kultur der Behinderung zu verfügen, die hervorragende Produktionen schafft und eine Gemeinschaft von Kunst- und Kulturschaffenden herausgebildet hat, die einander unterstützt, aber auch konstruktiv Kritik übt. Darauf können wir stolz sein. Doch diese lebendige Künstlercommunity und die Exzellenz der aktuellen Generation von Künstler*innen mit Behinderung sind kein historischer Zufall.

Die britische „Disability Arts“ Bewegung

Das „Disability Arts Movement“, die Bewegung für eine Kultur der Behinderung in Großbritannien, blickt auf eine vierzigjährige Geschichte als künstlerische, aber auch politische Bewegung. „Shape Art“ war eine der ersten britischen Organisationen, die sich damit auseinander gesetzt hat, dass Menschen mit Behinderung sehr selten in Großbritanniens Museen, Theatern, Konzertsälen und Kinos zu finden sind. Menschen mit Behinderungen waren damals eine Seltenheit als Publikum, als Zuschauer*innen oder Besucher*innen – als Kunst- und Kulturschaffende waren sie nahezu unbekannt. „Es ist wichtig daran zu erinnern, dass die Kultur der Behinderung in Großbritannien ihren Anfang nahm und ein Teil des Kampfes für mehr Bürgerrechte war“, so Tony Heaton, Leiter von Shape Arts. Jenny Sealey, die künstlerische Leiterin des „Graeae Theatre“, eine der führenden britischen Theaterkompanien von Menschen mit Behinderung, erzählt: „Damals in den 1980ern war die politische Antwort auf Diskriminierung, eine eigene Kompanie zu gründen… Wir entwickelten zunächst Produktionen für uns, doch über die Jahre wurden wir mutiger und sehr viel selbstbewusster: Was wir zu zeigen hatten, war gut. Wir wagten den Schritt in die ‚normale‘ Welt und sagten, ‚Entschuldigung, wir haben etwas zu erzählen.‘“

Aus meiner Sicht geht es bei der Entwicklung von europäischen Projekten, die sich mit der Arbeit von Künstler*innen mit Behinderung befassen, zuvorderst um die Kunst und die Qualität dieser Kunst. Es berührt jedoch auch interessante soziale und politische Aspekte. Zwei Grundprinzipien bzw. theoretische Ansätze sind leitend für die Arbeit von „Arts & Disability“: das Soziale Modell der Behinderung und der Kreativfall Vielfalt in Kunst und Kultur.

Das Soziale Modell der Behinderung

Das „Soziale Modell der Behinderung“ ist eine Art, Behinderung in der Gesellschaft zu betrachten. Es ist der Gegensatz von dem, was Aktivist*innen als das „Karitative Modell“ und das „Medizinische Modell“ beschrieben haben.

Das „Karitative Modell“ betrachtet Menschen mit Behinderung als bedauernswerte Wesen, die Mitleid verdienen und finanzielle Unterstützung benötigen. Es ist moralisch richtig, ihnen zu helfen.

Das „Medizinische Modell“ richtet seinen Fokus hingegen auf die Beeinträchtigung der Person mit Behinderung und auf die Möglichkeiten, diese zu beheben. Menschen mit Behinderung benötigen Heilung und werden als passive und vom medizinischen Spezialistentum abhängige Personen betrachtet.

Im Gegensatz dazu betrachtet das „Soziale Modell“ Behinderung als ein Konstrukt unserer Gesellschaft. Menschen haben unterschiedliche Beeinträchtigungen, aber behindert werden sie von unserer Gesellschaft – durch strukturelle, kulturelle, wirtschaftliche oder einstellungsbedingte Barrieren.

Diese Barrieren, die Menschen mit Behinderung am gleichberechtigten Zugang zur Kultur als Publikum oder als Künstler*innenhindern, müssen wir immer im Blick haben. Für das Publikum bestehen sie aus physischen Zugangsschranken – bei fehlenden Rollstuhlzugängen oder nicht vorhandener Gebärdensprachübersetzung; aus finanziellen Zugangsschranken, denn Menschen mit Behinderung haben oft viel höhere Transportkosten, um zu einem Veranstaltungsort zu gelangen und weniger verfügbares Einkommen als Menschen ohne Behinderung; sowie auch aus kulturellen Haltungen, die uns beschränken, wie „Kultur ist nichts für mich“ oder wie im Fall von Museumsbesucher*innen, die ein Kind mit schwerem Autismus anstarren, das auf Kunst, die ihm gefällt, mit lautem Wohlgefallen reagiert.

Zugänglichkeit ist eine Reise – kein Endpunkt

Leider stoßen Künstlerinnen und Künstler und Kulturschaffende überall auf solche und weitere Hemmnisse. Die Ausbildung an Konservatorien und Akademien ist oftmals nicht offen für Menschen mit Behinderung. Viele Möglichkeiten, die eigene Karriere voranzutreiben und sich künstlerisch zu entwickeln, sind Menschen mit Behinderung verwehrt, denn die für die künstlerische Entwicklung so wichtigen Workshops, Residenzen und internationalen Austauschmöglichkeiten sind meistens nicht barrierefrei. Künstler*innen mit Behinderung treffen auch auf Barrieren durch höhere Kosten für ihre Aufführungen bzw. Tourneen. Weil ihre Produktionen zuweilen mehr kosten, wenn eine zusätzliche Person die Tournee begleitet oder ein*e Gebärdensprachdolmetscher*in bezahlt werden muss, sind sie oft nicht konkurrenzfähig.

Für Kulturorganisationen mögen all diese Barrieren, die es zu überwinden gilt, erdrückend wirken. Aber nach unserer Erfahrung ist Zugänglichkeit für alle Beteiligten eine Reise und kein Endpunkt. Kulturschaffende und –organisationen können sich auf diese Reise begeben, in kleinen Schritten oder vielleicht auch einmal in großen Sprüngen, wenn Fördermittel von außen dabei helfen. Wichtig ist zu verstehen, dass so vieles, was uns ganz selbstverständlich ist, für Menschen mit Behinderung als Publikum und als Kunst- und Kulturschaffende nicht zugänglich ist. Dies müssen wir uns und unseren Kolleg*innen klar machen.

Der Kreativfall Vielfalt

Wie das Soziale Modell von Behinderung steht der kreative Ansatz für mehr künstlerische Vielfalt im Gegensatz zu anderen, älteren Denkweisen zum Thema, nämlich zu moralischen und rechtlichen Betrachtungsweisen.

Vom moralischen Standpunkt aus ist es ethisch richtig, dass Menschen mit Behinderung gleichen Zugang zu Kunst und Kultur haben. Wenn wir daran glauben, dass jede*r von der lebensverbessernden Rolle der Kunst profitieren sollte, dann gilt dies auch für Menschen mit Behinderung. Kunst und Kultur für alle ist eine gute Sache.

Aus rechtlicher Sicht bilden, zumindest in Großbritannien, die Rechte von Menschen mit Behinderung auf freien Zugang zu Waren und Dienstleistungen den Rahmen. 1995 verabschiedete die britische Regierung das Gesetz gegen die Diskriminierung von Behinderung („Disability Discrimination Act“). Dieses Gesetz verpflichtete Arbeitgeber*innen und Dienstleister*innen erstmals dazu, durch ‚angemessene Anpassungen‘ am Arbeitsplatz und bei Dienstleistungen Barrieren für Menschen mit Behinderung abzubauen. Arbeitgeber*innen, Geschäfte, Theater und Museen können vor Gericht gebracht werden, wenn Einzelpersonen sich durch sie diskriminiert fühlen. Im Kulturbereich hat das Gesetz großen Einfluss auf die Vergabe von Fördermitteln und die Vertragsgestaltung mit Förderorganisationen genommen.

Im Kulturbereich in Großbritannien kam es 2011 zu einem entscheidenden Paradigmenwechsel. Das „Arts Council“ von England prägte einen neuen Begriff: der „Creative Case for Diversity“ (Kreativfall Vielfalt) beschreibt, wie Vielfalt und Gleichberechtigung unsere Kultur für Künstler*innen, für das Publikum und für unsere Gesellschaft bereichern.

Aus meiner Sicht trifft der „Creative Case“ eine Reihe von wichtigen Aussagen:

  • Künstler*innen mit einzigartigen Erfahrungen mit und Blickweisen auf die Welt produzieren neue und einzigartige Kunst.
  • Die Auseinandersetzung mit Unterschieden und dem „Anderen“ hilft uns allen, die Komplexität der Gesellschaft, in der wir leben, zu verstehen.
  • Vielfalt ist eine der kreativen Chancen unserer Zeit.
  • Künstler*innen schaffen eigenwillige Werke, die verstören sollen.

Die letzte Avantgarde

Diese Künstler*innen schaffen nicht nur neue Werke mit spannenden Inhalten, die nie zuvor zu sehen waren. Sie fordern die Kunstform an sich heraus. So sehr, dass der gefeierte Bildende Künstler Yinka Shonibare „Disability Arts“ als ‚die letzte verbliebene Avantgarde-Bewegung‘ bezeichnet.

Das British Council möchte mehr von dieser radikalen und innovativen Arbeit in ganz Europa sehen. Wir sind überzeugt, dass Publikum wie Kunst- und Kulturschaffende davon profitieren werden, dass Künstler*innen mit Behinderung die Kunst ästhetisch herausfordern. Soeben wurden eine neue Internetseite und ein regelmäßiger Newsletter gestartet, die über die bemerkenswertesten Künstler*innen mit Behinderung in Europa informieren und professionellen Kunst- und Kulturschaffenden, die ihre Veranstaltungsorte und Angebote für Menschen mit Behinderung zugänglicher gestalten wollen, Unterstützung bieten. Wir selbst tun nichts Radikales, sondern stellen eine aufregende Strömung künstlerischer Aktivitäten ins Rampenlicht, die in Großbritannien und Europa in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen hat.

Schließlich könnten zwei Leitfragen, die wir uns täglich stellen, für Sie von Interesse sein – als eine Art der Provokation:

  • Was tun wir gegen Barrieren, die Menschen mit Behinderung am gleichberechtigten Zugang zu Kunst und Kultur als Publikum oder als Kunst- und Kulturschaffende hindern?
  • Wie stellen wir sicher, dass Kunst und Kultur von der ästhetischen Herausforderung profitieren, vor die Künstler*innen mit Behinderung die künstlerischen Formen stellen?

Lassen Sie mich wissen, welche Antworten Sie dazu entwickeln. Lassen Sie uns gemeinsam Verantwortung übernehmen und die außergewöhnliche neue Kunst feiern, die gerade überall entsteht.

Ben Evans ist Theaterregisseur und arbeitet seit 2011 beim British Council. Dort war er zunächst als Schauspiel- und Tanzberater und als Leiter der Kulturabteilung in Portugal tätig. Als Leiter der Abteilung „Arts & Disability“ des British Council in der Europäischen Union bringt er heute u.a. Kunst- und Kulturschaffende mit Behinderung mit Organisationen in Kontakt, die sich für den aktiven sowie passiven Zugang für Menschen mit Behinderung zu Kunst und Kultur einsetzen.

Der Artikel ist eine gekürzte Fassung seines Vortrags auf dem Symposium „ALL IN: Qualität und Öffnung von Kulturarbeit durch Inklusion“ am 3. Mai 2016 in Köln.

Übersetzung: Almuth Fricke

 

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